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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Auch seine Enkelin, Patricia Hearst, war mir ein Begriff. War sie nicht entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen worden, woraufhin sie mit ihren Entführern gemeinsame Sache gemacht hatte, bis sie bei einem Bankraub gefasst worden war?
    »Ja, so war das«, bestätigte David, als er wieder zu mir gestoßen war. »Eine bizarre Familie. Aber das wirklich Bizarre ist dort oben.« Er deutete auf den Hügel, der vor uns in den Himmel ragte, dessen Gipfel man von hier unten allerdings nicht sehen konnte.
    »Früher gehörte bereits die Anfahrt zum Spektakel dazu«, erklärte er, während wir auf den Bus warteten, der uns hinaufbringen sollte. »Um das Schloss herum erstreckte sich ein richtiger Zoo. Es gab sogar Eisbären, für die täglich Eisblöcke aus Los Angeles hergeschafft wurden. »
    Ich versuchte, mir das vorzustellen, während der Bus die gewundene Straße hinaufkroch. Eine Stimme aus einem Lautsprecher verkündete die gewaltigen Ausmaße des Anwesens und reihte Superlativ an Superlativ. Die Eisbären wurden auch erwähnt, außerdem Bären, Löwen und Flamingos, die diese grasgrünen Hügel einmal bevölkert hatten und deren Futter über Hunderte von Meilen hatte herangekarrt werden müssen.
    Der Bus entließ uns auf einem Platz vor einer Art Kirche. Ich spürte, dass David mich beobachtete, während ich versuchte, meine Wahrnehmung zu justieren. Das Ganze sah aus wie der Eingang zu einer Kathedrale im spanischen Stil. Aber irgendetwas stimmte nicht daran. Die Fassade war zu niedrig geraten. Außerdem passte der hölzerne Vorbau nicht zum restlichen Gebäude. Je länger man hinschaute, desto falscher sah alles aus. Den Grund dafür erfuhr ich von unserer Führerin, einer jungen, pummeligen Studentin namens Wendy.
    Wie alles hier war auch diese sogenannte Casa Grande aus Gebäudeteilen von Abteien, Klöstern und Schlössern zusammengefügt worden, die Hearst in den Zwanzigerjahren in Europa zusammengekauft hatte. Das schmiedeeiserne Gitter auf dem Portal stammte aus einem spanischen Kloster des sechzehnten Jahrhunderts. Die Madonna mit Kind auf dem Fries des Giebelbogens war wohl italienischen Ursprungs. Das Bodenmosaik im Eingangsbereich wiederum kam ursprünglich aus Sizilien, die Gobelins an den Wänden wahrscheinlich aus französischen Schlössern. Über italienischem Chorgestühl hingen Tapisserien des flämischen Hochbarock. Englische Billardtische standen auf arabischen Fliesen. Über einem langen Holztisch aus einem schottischen Schloss hingen Glaslüster vermutlich böhmischer Herkunft. Auf dem Tisch standen Ketchup- und Senfflaschen aus den Zwanzigerjahren und schlugen in gewisser Weise eine Brücke zu uns.
    Da David auch noch den Rundgang durch die Bäder und Küchen gebucht hatte, mussten wir nach der ersten Tour nicht wieder nach unten fahren, sondern durften am Neptun-Pool auf die nächste Gruppe warten.
    »Hier haben sie ein paar Szenen aus Spartakus gedreht«, erklärte er.
    Warum auch nicht? Schöner und prächtiger konnten die Schwimmbäder in den römischen Kaiserpalästen auch nicht ausgesehen haben. Hier war zwar alles falsch. Aber es war nicht billig. Im Gegenteil. Das Material, die Handwerksarbeit, die Gärten, alles war äußerst kostbar. Aber warum um alles in der Welt hatte David mir das zeigen wollen? Was hatte dieses Schloss mit De Vander zu tun?
    Danach ging es immer so weiter, zunächst zu einem zweiten Schwimmbad im Innern des Palastes, das den Neptun-Pool an Pracht und Herrlichkeit noch übertraf, dann zu den Küchen, von denen es natürlich mehrere gab, durch die Schlafzimmer,
    Lese- und Kaminzimmer bis hin zu einem hauseigenen Kino. Nirgends in diesem bizarren Schloss gab es eine Stelle, an die nicht eine Antiquität aus der alten Welt geschraubt oder fest-gemörtelt worden war. Alles war überladen und im Grunde geschmacklos. Dennoch fiel es mir mit der Zeit immer schwerer, von der maßlosen Protzerei nicht doch ein wenig ergriffen zu sein. Lag über diesem Schloss nicht eine furchtbare Tragik? Hier war eine hemdsärmelige, tief verzweifelte Liebe am Werk gewesen, ein Mensch, der seinen kolossalen Reichtum aufgewendet hatte, um die schönste und zugleich sprödeste, anspruchsvollste, wählerischste und launischste Frau der Welt zu erobern: die Kunst. Und was war von seiner hingebungsvollen Werbung um sie geblieben? Der Stein gewordene Korb, den er von ihr bekommen hatte.

Kapitel 34
    Ich war völlig erschöpft, als wir gegen halb sieben wieder im Bus saßen, der uns in das

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