Der gestohlene Abend
Visitors' Center zurückbrachte. David blickte schweigend aus dem Fenster und schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Auch auf dem Rückweg zum Motel sprachen wir kaum. David sagte, er wolle kurz duschen und schlug vor, wir sollten uns später im Restaurant zum Abendessen treffen. Ich zog es vor, die Abendstimmung für einen kurzen Spaziergang zu nutzen, während David in unserem Bungalow verschwand.
Ich ging über struppiges Gras an die Stelle, wo die Küste zum Meer hin abfiel. Ein kühler Wind blies mir entgegen. Ohne einen Pulli oder eine warme Jacke würde ich es hier nicht lange aushalten. Trotzdem setzte ich mich kurz hin und schaute die Klippen hinab auf das Meer. Es schimmerte dunkelgrün und war sehr unruhig. Ich schlang die Arme um meine Knie und nahm die Aussicht in mich auf: den schmalen, hellroten Streifen am Horizont und darüber den Abendhimmel, der nach dem Sonnenuntergang noch ein wenig nachglühte. Plötzlich bemerkte ich kleine Köpfe dort unten im Wasser. Es waren Robben, die in der Brandung herumtollten. Ich schaute ihnen so lange zu, bis mir vor Kälte die Zähne klapperten.
Gegen acht saßen wir im Restaurant und entschieden uns für das Abendmenü: Clam Chowder und gegrillten Red Snap-per. Ich war sehr hungrig, aber auch müde. Das Merkwürdige der ganzen Situation kam mir dadurch wieder stärker zu Be-wusstsein. Was bezweckte David nur mit diesem Ausflug?
Er hatte eine komplette Theorie über Hearst Castle, die er mir vortrug, während wir auf die Suppe warteten. Er fragte sich, ob Rom nicht auch einmal so ausgesehen hatte, als es auf dem Gipfel seiner Macht stand. Schließlich habe es die gesamte bekannte Welt ausgeplündert und kopiert. Verschlang nicht jede siegreiche Supermacht alles zuvor Dagewesene und wirbelte es bis zur Unkenntlichkeit durcheinander? Andererseits könne in diesem Fall von Unkenntlichkeit ja keine Rede sein. Man sehe überall die Bruchlinien, wie bei Frankenstein. Hearst Castle war für ihn ein Sinnbild Amerikas, für den Schmelztiegel, in dem nichts verschmolz, sondern alles nur vermatscht, verschleimt und verwurstet wurde. Ja, er könne es manchmal gar nicht fassen, dass ein solcher Zustand der Auflösung kultureller Hierarchien überhaupt zu einer funktionierenden Staatsform gerinnen konnte, zudem zu einer militärischen Supermacht. Das sei das eigentliche Wunder der Gegenwart: dass so ein Homunkulus die Welt dominiere. Mir kam das alles ein wenig übertrieben vor.
»Was ist daran so schlimm? In Europa würde das ganze Zeug wahrscheinlich in irgendwelchen Museen oder Antiquitätenläden vergammeln. Jetzt ist es eben hier. Macht doch nichts.«
»Dir wird also nicht unbehaglich, wenn du durch dieses falsche Schloss spazierst?«, fragte er.
Ich musste lachen.
»Warum lachst du?«
»Weil ich noch nie jemanden getroffen habe, der so widersprüchlich ist wie du.«
»Ach ja. Wieso?«
»Du sagst, dieses Schloss sei falsch. Für Leute, die noch nie in Europa waren, ist dieses Schloss aber nicht falsch. Sie kennen den Kontext ja nicht, aus dem die Teile stammen. Auf mich wirkt das alles wie ein Schlager, der eine Mozartmelodie variiert. Wer sie wiedererkennt, freut sich. Wer nicht, der freut sich auch, weil es einfach eine schöne Melodie ist. Es ist eben Pop. Kulturelles Recycling. Und wenn ich von De Vander irgendetwas verstanden habe, dann doch wohl genau das: Es gibt bei genauerem Hinsehen im Grunde nur Pop, nur Homunkuli. Es gibt keine organischen Formen, kein Ding an Sich, keinen Ursprung. Es gibt immer nur Fragmente, Zitate, Spuren und ihre Beziehungen. Letztlich ist alle Kunst künstlich oder unecht. Kunst und Kitsch sind nicht wirklich unterscheidbar. Du kennst De Vander in- und auswendig. Du edierst seinen Nachlass. Gleichzeitig flößt dir Hearst Castle Unbehagen ein. Wie passt das zusammen?«
»Vielleicht weil De Vander mir neuerdings Unbehagen einflößt. Ich finde nämlich, dass dieses merkwürdige Schloss hier seiner Theorie sehr ähnelt.«
»Inwiefern?«
»Insofern eine Grenze überschritten wird.«
»Welche Grenze?«
»Die zwischen Spiel und Lüge.«
Er goss mir Weißwein nach und füllte auch sein eigenes Glas. »Oder gibt es für dich diesen Unterschied nicht?«
»Natürlich«, erwiderte ich.
»Wirklich?«, fragte er. »Irgendwie klang das nicht sehr überzeugend.«
Glücklicherweise kam die Suppe. Ich lehnte mich zurück, damit die Bedienung die dampfenden Schalen vor uns abstellen konnte. Ich griff nach meinem Löffel und begann
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