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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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zu essen. David wartete noch einen Moment, bevor er ebenfalls zu essen anfing. Weder er noch ich fanden einen Weg, die unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen. Ich begann mich über ihn zu ärgern. Was fiel ihm eigentlich ein? Er behandelte mich wie seinen Schüler.
    »Du spielst irgendein Spiel mit mir, David«, sagte ich. »Hör damit auf. Sag mir, was du willst, und lass diese komischen Fragen. Da hast du meine Meinung zum Unterschied von Spiel und Lüge. Es gibt einen Grund, warum wir hier sind. Aber du sagst ihn mir nicht. Du tust so, als wäre das hier ein akademischer Ausflug, ein Spiel, aber in Wirklichkeit bist du nicht ehrlich zu mir.«
    Er legte seinen Löffel neben dem Teller ab und griff nach seinem Weinglas. Hatte ich ihn gekränkt? Dieses nutzlose Gerede über diese alten Begriffe. Wahrheit und Lüge, Ernst und Spiel, Kunst und Kitsch. Und das ausgerechnet von ihm. War De Vanders Theorie nicht gerade deshalb so spannend, weil sie an diesen unauflösbaren Gegensätzen, über die ganze Bibliotheken geschrieben worden waren, achselzuckend vorüberging? Wenn David sich mit Marian überworfen hatte, dann konnte er mir ja erklären warum, wenn er wollte. Ohnehin war mein Verdacht noch immer, dass De Vander nur der Vorwand für diesen komischen Ausflug gewesen war. Es ging um Janine. Was sonst? Ich aß schweigend weiter, während er allmählich sein Weinglas leerte. Ihm schien dieöstliche Suppe nicht zu schmecken. Oder er hatte keinen Hunger.
    »Seit meinem Vortrag habe ich nicht mehr viele Freunde in Hillcrest«, sagte er. »Jacques, Tom und die andern reden nicht mehr mit mir.«
    »Wundert dich das?« '■
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Warum hast du Marian öffentlich bloßgestellt?«, frage ich. »Warum auf so eine Art und Weise?«
    »Ich habe einen Vortrag gehalten, sonst gar nichts. Die Reaktion darauf zeigt nur, wie weit es schon gekommen ist. Wo leben wir denn? In Moskau? Ist das INAT vielleicht das Zentralkomitee für Literaturfragen? Ich habe ganz sachlich argumentiert und meine Ergebnisse vorgetragen.«
    Ich schüttelte den Kopf. Davids Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er bekam etwas Feindseliges, Abweisendes. Er wusste genau, was er getan hatte.
    »Warum sind wir hier, David?«, fragte ich noch einmal. »Ist es wegen Janine? Dann sag es doch. Soll ich mich entschuldigen? Willst du wissen, wie das alles passiert ist? Ich ...«
    »Ich wollte dir Hearst Castle zeigen«, unterbrach er mich. »Das ist alles.« »Warum?«
    »Wahrscheinlich war es keine gute Idee«, sagte er. »Tut mir leid.«
    »Mir tut es auch leid, David.«
    »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dich nicht zu rechtfertigen brauchst?«
    »Du kannst es hundertmal sagen, ich fühle mich trotzdem beschissen. Und du auch. Gib es doch wenigstens zu.«
    Eine peinliche Pause entstand. Ich goss sein Weinglas voll. Er schaute kurz auf. Er brauchte gar nicht zu antworten. Ich wusste auch so, dass ich recht hatte. Bestimmt fragte er sich die ganze Zeit, was Janine an mir fand. Es ging ihm überhaupt nicht gut. Die Suppe hatte er fast nicht angerührt, und sein Fisch lag noch genauso vor ihm auf dem Teller, wie die Bedienung ihn vor wenigen Minuten hingestellt hatte.
    »Isst du nichts?«, fragte ich.
    »Doch.«
    Aber anstatt zu essen, erhob er sich und verschwand zu den Toiletten. Ich war schon fast fertig, als er endlich zurückkam. Er aß drei Bissen von seinem mittlerweile kalten Red Snapper und ließ den Rest zurückgehen. Dafür bestellte er noch eine Flasche Wein und fragte, ob ich etwas dagegen hätte, den Nachtisch an der Bar einzunehmen, weil man dort rauchen dürfe. Aber ich wollte überhaupt keinen Nachtisch. Ich wollte ins Bett und so schnell wie möglich zurück nach Hillcrest.

Kapitel 35
    Der Nachmittagsverkehr im Großraum Los Angeles bescherte uns drei Stunden Verspätung. Als absehbar war, dass wir niemals rechtzeitig zurück wären, versuchte ich, Janine anzurufen. Aber entweder nahm sie nicht ab, oder sie war nicht zu Hause. Ich hinterließ eine kurze Nachricht, dass wir auf dem Rückweg seien. Eine Dreiviertelstunde später - wir steckten mittlerweile kurz hinter der Abfahrt zum Flughafen fest - rief ich noch einmal an, erwischte jedoch wieder nur den Anrufbeantworter. Ich bat sie, auf mich zu warten, auch wenn es etwas später werden sollte.
    Um kurz vor fünf Uhr nachmittags trafen wir endlich auf dem Campus ein. David setzte mich neben Pinewood Hall ab. Wir hatten auf der Rückfahrt nicht viel

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