Der gestohlene Abend
mehr, noch etwas davon zu lesen oder vorzubereiten. Marian erwartete eine Idee von mir. Einen Vorschlag für eine Hausarbeit.
Mir fiel sofort auf, wie müde sie aussah, als ich ihr Büro betrat. Sie wirkte unkonzentriert, und ich hatte das Gefühl, dass ihr der Termin genauso wenig passte wie mir. Aber offenbar sah ich noch schlimmer aus als sie.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie mich sofort, nachdem ich mich gesetzt hatte.
»Ja, danke.«
»Viel gearbeitet am Wochenende?«
»Ja.«
»Und? Haben Sie Ihre Literaturliste mitgebracht?«
Daraufwar ich vorbereitet. Ich gab ihr einen Ausdruck, den ich schon am Freitag besorgt hatte. Es waren nur bibliografische Angaben ohne Kommentare, was sie natürlich sofort monierte. Aber genau darauf hatte ich meinen Bluff aufgebaut.
»Ich habe die Kommentare noch nicht geschrieben, weil mir am Wochenende Zweifel gekommen sind, ob Sie das überhaupt akzeptieren würden.«
Sie musterte den Ausdruck erneut.
»Alles auf Deutsch«, sagte sie missgestimmt.
»Ja. Das Stück, über das ich gern schreiben würde, gibt es nicht auf Englisch. Es ist nicht sehr bekannt und deshalb wohl nie übersetzt worden. Auch die Sekundärliteratur ist fast ausschließlich auf Deutsch.«
Ein besserer Trick, meinen Kopf für heute aus der Schlinge zu ziehen, war mir nicht eingefallen. Sie würde natürlich ablehnen. Wie sollte sie eine Arbeit bewerten, wenn sie weder das Stück noch die Sekundärliteratur dazu kannte? Sie würde ablehnen, und ich könnte mir bis nächste Woche in Ruhe etwas anderes ausdenken.
»Wie heißt das Stück?«, fragte sie.
»Die Familie Schroffenstein.«
»Und warum wollen Sie ausgerechnet darüber schreiben?«
Sie drehte ungeduldig einen Bleistift zwischen den Fingern. Sie hatte bestimmt nicht viel oder auf jeden Fall sehr schlecht geschlafen. Oder hatte sie aus anderen Gründen schlechte Laune? Ich musste mich vorsehen. Wenn sie durchschaute, was ich hier tat, würde mir das übel bekommen.
»Es ist sein erstes Stück«, sagte ich. »Kleist hat es selbst als misslungen betrachtet, und vielleicht ist es auch deshalb fast vergessen. Aber ich finde, es nimmt schon alles vorweg, was später kommt. Auch eine zentrale Passage im Marionettentheater.«
Jetzt würde sie gleich abwinken. Aber genau das tat sie nicht.
»Was passiert in dem Stück?«, fragte sie, noch immer ernst und abweisend.
»Es ist eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte« erklärte ich. »Aber dunkler, grotesk, und noch grausiger. Es geht um zwei Familien des gleichen Adelsgeschlechtes, die durch einen Erbvertrag miteinander verbunden sind. Der Vertrag wurde in grauer Vorzeit geschlossen, um auszuschließen, dass das Vermögen jemals an ein fremdes Geschlecht fällt. Aber natürlich vergiftet der Vertrag die Beziehungen zwischen den beiden Familien. Bei jedem ungewöhnlichen Todesfall verdächtigt ein Zweig den anderen des Mordes. Das Misstrauen ist so groß geworden, dass die Familien nicht einmal mehr direkt miteinander sprechen. Nur Boten gehen noch hin und her, deren Botschaften allerdings durch das Misstrauen der Beteiligten immer verzerrt werden.«
»Und was ist mit Romeo und Julia?«
»Die Kinder der beiden Häuser, ein Junge und ein Mädchen, sind sich im Wald begegnet und haben sich ineinander verliebt. Sie wissen natürlich, dass ihre Liebe nicht sein darf. Also tun sie beide so, als wären sie nicht die, die sie sind.«
»Interessant. Und wo sehen Sie die Beziehung zum Marionettentheater?«
»In der Sprache der beiden Liebenden. Das hat etwas von der natürlichen Grazie, von der im Marionettentheater die Rede ist.«
Ihre Stirn begann sich wieder zu runzeln. Die Sprache der Liebe. Natürliche Grazie. Sie müsste mich längst unterbrochen haben. Noch schwammiger ging es ja wohl nicht. Aber sie sagte nichts, beäugte kritisch meine Literaturliste und erwartet offenbar, dass ich fortfuhr.
»Zwischen den von Misstrauen zerfressenen Familien ist jegliche Kommunikation unmöglich geworden. Jeder Versuch, Klärung zu schaffen, macht alles nur noch schlimmer. Die Sprache wird dabei regelrecht verrückt. Wann immer die Figuren aus ihren Überlegungen einen gültigen Schluss ziehen wollen, endet die Szene mit Schweigen. Bei den Liebenden ist es genau umgekehrt. Sie machen sich die ganze Zeit etwas vor, lügen sich im Grunde an, aber das kann ihnen gar nichts anhaben. Das Ganze wird in einem extremen Bild auf die Spitze getrieben. Als die Missverständnisse eskalieren und in eine offene
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