Der gestohlene Abend
Familienfehde ausarten, tauschen die Kinder die Kleider, um sich vor dem Hass des jeweils anderen Hauses in Sicherheit zu bringen. Das wendet die bereits drohende Katastrophe ins Grausige. Die Väter erschlagen, getäuscht durch die vertauschten Kleider, jeweils das eigene Kind.«
»Und wo ist der Bezug zu Kleists Aufsatz?«
»In der Szene, die dem Doppelmord vorausgeht. Sie spielt in einer Höhle, wohin die beiden sich geflüchtet haben. Der junge Mann entkleidet die junge Frau, wobei er sie mit Worten regelrecht hypnotisiert. Dann versucht er sie durch den Kleidertausch zu retten. Es wimmelt in der Szene und in der Sprache von christlichen Bezügen. Gleichzeitig vollziehen die beiden aber ein heidnisches Vermählungsritual. Manche Interpreten sprechen sogar von Inzest. Sie fallen sowohl aus ihrer Kultur heraus als auch durch die Hand des jeweils eigenen Vaters. Dieser doppelte Fall erinnert stark an den letzten Satz im Marionettentheater, wo es ja um die Aufhebung des ersten Sündenfalls durch einen zweiten geht. Kleist schreibt, dass wir ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen müssen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, und dass dies das letzte Kapitel der Geschichte der Welt sei. Die ganze Vieldeutigkeit dieses Satzes ist für mich in der Höhlenszene schon gestaltet. Was für ein Fall ist dieser zweite Sündenfall? Hinein in ein erlöstes Christentum ja wohl sicher nicht. Wohl eher aus ihm heraus. Aber wohin? In die Mörderhände der Väter?«
Marian schaute mich schweigend an. Spürte sie, was ich hier trieb? Dabei dämmerte es mir selbst erst jetzt, warum mir ausgerechnet diese Passage eingefallen war: Es gab eine sehr konkrete Furcht und Sehnsucht, die mir ausgerechnet die Höhlenszene in Erinnerung gerufen hatte.
»Sie müssten mir die wichtigsten Passagen des Dramas erst einmal übersetzen«, sagte sie. »Die deutsche Sekundärliteratur, die Sie heranziehen wollen, müssten Sie mir außerdem sehr viel ausführlicher als üblich kommentieren, damit ich mich damit beschäftigen kann, bevor ich Ihre Fragestellung akzeptiere. Allegorische Interpretationen, mit denen Sie sich auseinandersetzen müssten, gibt es ja vermutlich schon, oder?«
»Ja. Bestimmt«, antwortete ich so vage wie möglich.
»Das Thema klingt vielversprechend, Matthew«, sagte sie und wurde das erste Mal etwas freundlicher. »Wenn Sie keine platte Motivgeschichte daraus machen, sondern wirklich tiefer in diese Thematik einsteigen, kann das sehr spannend werden. Aber ich will die Passagen aus dem Drama erst auf Englisch sehen. Sind Sie sicher, dass sie das zeitlich schaffen? Die Übersetzung wird Ihnen einige Arbeit machen.«
Für einen Augenblick vergaß ich alles andere und war einfach nur erleichtert, diese Besprechung unbeschadet hinter mich gebracht zu haben.
»Ja, sicher«, sagte ich ausgelassen. »Es ist ja nicht Holländisch.«
Sie stutzte.
»Wie soll ich das verstehen?«
»Es war nur ein Scherz«, antwortete ich. »Sie haben doch David vor zwei Wochen zu mir geschickt wegen dieser holländischen Artikel für die Konferenz, die Sie organisieren.«
Sie schaute mich völlig ausdruckslos an.
»Ach, das meinen Sie«, sagte sie dann.
»Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt.«
Ihre Miene war eisig geworden.
»Sind Sie mit David befreundet?«
»Befreundet? Nein, überhaupt nicht«, erwiderte ich, knallrot vor Verlegenheit.
Ihr Ton war jetzt wieder normal, aber ich spürte genau, dass sie sich gerade sehr zusammennahm. »Ich kenne ihn kaum«, fügte ich rasch hinzu.
»Aber Sie übersetzen für ihn?«
»Nur ein paar Passagen aus einem Zeitungsartikel. Er wollte wissen, ob er mit seiner Übersetzung richtig lag.«
»Was für ein Artikel war das?«
»Ein Kommentar über eine Buchmesse. In Brüssel. Während des Krieges. Der Text war auf Holländisch. Ich kann kein Holländisch. Aber ich konnte den Artikel in groben Zügen lesen. Eine antisemitische Schmiererei.«
Sie blinzelte. Dann griff sie nach ihrer Tasche. Ein untrügliches Zeichen, dass unsere Unterredung zu Ende war. Doch ich irrte mich, denn sie blieb sitzen.
»Wie fühlen Sie sich eigentlich bei uns im Seminar, Matthew? Haben Sie zu den anderen schon ein bisschen Kontakt aufgenommen? Ich meine außerhalb des Unterrichts.«
»Nein, das kann man nicht sagen.«
»Ganz von selbst geschieht das ja auch nicht.«
War das ein Vorwurf? Wollte sie mir damit irgendein Signal geben? Aber das Gegenteil war der Fall.
»Ich sollte mal wieder eine kleine
Weitere Kostenlose Bücher