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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gibt die Romantik, das Biedermeier, Sturm und Drang, Empfindsamkeit, Naturalismus, Expressionismus und so weiter. Du kannst die Reihe gerne fortsetzen. Kommt da irgendwo ein Mensch vor?«
    »Ach, Theo, was soll denn das? Überall natürlich.«
    »So? Wie sieht denn ein expressionistischer Mensch aus? Redet der nur in schrägen Bildern und trägt knallbunte Klamotten? Und die Naturalisten. Haben die alle den Darwin in der Tasche mit sich herumgetragen? Oder die blassen Bewohner der Empfindsamkeit. Haben die überhaupt einmal Holz gehackt oder ein Schwein ausgenommen?«
    »Das sind doch wirklich nur Schlagwörter. Was soll denn das?«
    »Nein, Matthias. Es sind Wahrnehmungsfilter, die ein Weltbild und eine Ideologie transportieren.«
    »Und die lautet?«
    »Zum Beispiel dass bestimmte Zeiten wesentlich anders gewesen sind als andere. Dass der Mensch Fortschritte macht. Dass die Geschichte linear verläuft. Dass wir heute raffinierter oder anspruchsvoller leiden, lieben oder hassen als ein Mensch vor vierhundert Jahren. Kurz gesagt: dass es gar keine Menschen gibt, sondern nur irgendwelche abstrakten Kräfte, die sich ihrer bedienen, um eine Epoche zu erzeugen. Das steckt dahinter. Dass wir keine Täter sind, sondern Opfer. Und genau deshalb bist du im Deutschunterricht mit Recht eingeschlafen, weil deine Seele natürlich genau spürt, was für ein Quatsch das ist. Und vermutlich studierst du deshalb Literatur, weil du die Hoffnung hast, dass du an der Uni findest, was dir im Deutschunterricht schon gefehlt hat. Ein Schlüssel zu dem, was Literatur in dir anrichtet. Eine Sprache für diese Sprache.«
    Ich hatte das Gefühl, dass Theo gar nicht mit mir sprach, sondern mit Winfried. Hatten die beiden sich heute oder gestern gestritten, und schwirrten ihm diese Gedanken vielleicht deshalb noch im Kopf herum? Und jetzt wurde er sie eben an mich los, weil ich nun mal vor ihm saß. Aber sein letzter Satz traf mich dann doch.
    »Und wo findet man diese Sprache?«, fragte ich.
    »Nirgends. Sie existiert nicht. Es gibt ja auch keine zweite Sprache für Musik oder Tanz. Wieso sollte es eine fürs Erzählen geben?«

Kapitel 38
    Die beiden Wagen standen noch immer da. Ich überquerte die Straße. Bevor ich die andere Seite erreichte, erlosch das Licht hinter den Fenstern. Halb elf. Und sie löschte das Licht? Würden sie jetzt gleich herauskommen? Würde er endlich gehen und sie mich dann vielleicht doch anrufen? Oder zu mir kommen?
    Ich wartete. Jede Minute fühlte sich länger an als die vorherige. Aber niemand verließ das Haus. Weder sie noch er. Ich stand noch einige Minuten unschlüssig herum. Dann machte ich kehrt.
    Zwanzig Minuten später war ich wieder zu Hause. Mein erster Griff galt dem Telefon. Aber sie nahm nicht ab. Ich ließ es lange klingeln, legte auf und wählte noch einmal. Keine Antwort. Auch kein Anrufbeantworter. Es gab nur eine Erklärung: Sie hatte den Stecker herausgezogen. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Zu einfach. Wie sie neben ihm ausgeharrt hatte am Abend des Vortrags. Ich hatte ihre Stimme noch im Ohr: Ich werde David nicht verlassen, OK? Sie hatte es ja von Anfang an gesagt. Die beiden hatten eine Krise. Aber sie liebte ihn. Sein Coup mit unserem Kurzausflug hatte offenbar Eindruck auf sie gemacht.
    Eine Stunde später saß ich noch immer so da, das Telefon auf den Knien, die Hand am Hörer. Ich wählte noch einmal ihre Nummer. Keine Antwort. Ich feuerte den Apparat in eine Ecke und ging wieder nach draußen. Diesmal nahm ich einen anderen Weg, an der Tankstelle bei Safeway vorbei, wo es Zigaretten gab. Ich kaufte ein Päckchen und rauchte gleich zwei hintereinander, bis ich wieder vor ihrem Haus angekommen war. Fassungslos starrte ich auf den Parkplatz. Es war fast Mitternacht, und sein beschissener Wagen stand immer noch da. Sollte ich hinaufgehen? Ausgeschlossen. Ich setzte mich ins Gras und versuchte, die Situation zu begreifen Aber was gab es da schon zu begreifen. Während ich hier saß, schlief sie mit David.
    In der Ferne war der schrille Klang einer Sirene zu hören. Ich nahm ihn zunächst gar nicht richtig wahr. Ein Unfall unten auf der Küstenstraße wahrscheinlich. Doch das Geräusch kam näher. Der Polizeiwagen musste in der Nähe des Campus unterwegs sein. Ich erhob mich und ging querfeldein zurück. Das Sirenengeheul war jetzt so nah, dass ich beunruhigt stehen blieb. Ich war zwischen dem Pool und dem Geologiegebäude angekommen, als ich das Zucken des Blaulichts bemerkte. Der

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