Der gestohlene Abend
kam doch auch bei diesem Shakespearevortrag zur Sprache. Wann fing das denn an mit der Ostereiersuche nach W.H? Um 1800. Seither wurde sich in Hunderten von Doktorarbeiten, Habilitationen und Konferenzen der Kopf darüber zerbrochen. Wegen eines Druckfehlers! Hast du übrigens mal mit diesem David geredet?«
»Nein.«
»Also: Ich gebe es zu. Ich denke durchaus, dass man Flossen anziehen muss, wenn man Fische verstehen will.«
»Zum Beispiel?«, fragte ich. Ich musste mich ablenken. Und sei es mit dieser Diskussion. Wenn er nur David nicht noch einmal erwähnte.
»Nimm die Romantheorie«, sagte er. »Du als Wissenschaftler. Wie erklärst du dir das Aufkommen des Romans?«
»Soviel ich weiß, gibt es darüber mehr als eine Theorie.«
»Von mir aus. Irgendeine. Nimm den englischen Roman des siebzehnten Jahrhunderts. Warum schrieben die Leute damals plötzlich Romane und kaum noch Theaterstücke?«
Das war nicht schwer zu beantworten.
»Weil die Welterfahrung der Menschen eine andere geworden war. Das Bewusstsein hatte sich verändert. Und der Roman bot für dieses neue Bewusstsein einfach mehr Darstellungsmöglichkeiten als das Drama oder die anderen, klassischen Formen.«
»Genau«, sagte Theo. »Das würde Winfried auch sagen. Wie bei Hegel. Der Weltgeist hat einen Hebel umgelegt, und die Kunst reagiert darauf.« »Und das ist falsch?« »Es ist höchstens die halbe Geschichte.« »Und wie lautet die andere Hälfte?« »Ganz einfach: Die Theater waren geschlossen, weil ein reaktionärer König sie verboten hatte. Es gab jahrzehntelang keinen Markt für Dramen. Unter anderem deshalb schrieben die Autoren Romane. Und dadurch kam durchaus eine Revolution zustande, nicht durch ein ominöses neues Bewusstsein. Denn mit einer Sache hatte niemand gerechnet.« »Und womit?«
»Mit den Autoren. Für sie war das eine kolossale Befreiung. Gibt es für Schriftsteller überhaupt etwas Entsetzlicheres als Theater? Was für ein riesiger Aufwand, um eine Geschichte zum Publikum zu bringen! Allein die gewaltigen Kosten. Das verleiht Theaterdirektoren eine enorme Macht der Vorauswahl. Dann hängt sehr viel vom Regisseur und den Schauspielern ab. Und das Publikum ist begrenzt. Wie viel vorteilhafter ist da ein Roman. Der ganze kostspielige und oft entstellende Klimbim fällt weg. Kein dämlicher Schauspieler oder Spielleiter ruiniert das Stück. Keine Obrigkeit kann das Theater so einfach schließen, denn ich halte es ja in meinen eigenen vier Wänden in den Händen. Ich erlebe es in meinem Kopf und kann es leicht verstecken oder außer Landes bringen. Die Stimme des Autors spricht direkt zum Leser. Mächtige Filter sind plötzlich verschwunden. Die Stimme hat sich vertausendfacht. Das ist die Revolution. Ich will mich nicht mit dem Weltgeist anlegen. Vielleicht gibt es ihn ja wirklich. Aber den ersten Roman hat nicht der Weltgeist geschrieben, sondern ein Autor, der auf eine Marktsituation reagiert hat. Und beim letzten Roman wird es genauso sein.«
»Und was würde Winfried dazu sagen?«
»Was er immer sagt. Dass ich ein verkappter Marxist bin, der alles auf den Markt reduziert.«
»Und was antwortest du?«
»Dass es leicht ist, über den Markt zu spotten, wenn man im hochsubventionierten und von allen Marktkräften geschützten Raum der Universität Engelzählerei betreibt.«
Ich musste trotz meiner Magenschmerzen lachen.
»Eure Diskussionen sind sicher unterhaltsam.«
»Ja, Matthias. Aber es ist eben nicht nur witzig. Denn die ganzen hochtrabenden Mythen und Legenden über Literatur, die Winfried und seinesgleichen erzeugen, machen es für Leute wie mich verdammt schwer.«
»Inwiefern?«
»Ganz einfach. Hast du deinen Deutschunterricht genossen?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Hast du dich einmal gefragt, woran das liegt? Du studierst Literatur? Warum eigentlich?«
Ich überlegte einen Moment lang. Ich fand die Frage unfair. Wie sollte ich das mit einem Satz beantworten? Und das abfällige Gerede vom Weltgeist und der Engelzählerei provozierte mich auch ein wenig.
»Ich studiere Literatur, weil ich glaube, dass die Geschichten, die die Menschen sich erzählen oder erzählt haben, etwas darüber aussagen, wie sie die Welt gesehen und erlebt haben.«
»OK. Das glaube ich auch. Aber da nennst du auch schon das Stichwort: Menschen. Kennst du auch nur eine Literaturepoche, in der Menschen vorkommen?«
Die Frage warf mich völlig aus dem Gleis. Was sollte denn das jetzt?
»Probieren wir's mal«, sagte er. »Es
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