Der gestohlene Abend
einem unterdrückten, würgenden Husten. Dann wieder das Gestammel: »Warum hat er das getan, er ist TOT, aber wir können doch nichts dafür, oder, sag doch was, verdammt noch mal.«
Ich hielt den Hörer in der Hand. Tot? Wer war tot?
»Janine, was ist passiert?«, sagte ich schließlich. »Wo bist du? Wer ist tot?«
»David ist tot«, schrie sie.
Er ist doch bei dir, wollte ich sagen. Er hat doch die Nacht bei dir verbracht.
»Janine, wovon redest du ... ?«
Ich hörte, wie sie die Nase hochzog.
»Was haben wir nur getan«, wimmerte sie.
Dann brach die Verbindung ab. Mit einem Satz war ich aus dem Bett. Der Wecker stand auf zwanzig nach sechs. Ich zog mich an und rannte die Treppe hinunter. Ich überquerte die Fußgängerbrücke und wollte den kürzesten Weg quer über den Campus nehmen. Doch ich kam nicht weit. Schwarzgelbes Plastikband versperrte kurz hinter der Brücke den Weg. Die beiden Löschzüge standen noch da. Ebenso ein Polizeiwagen sowie ein grauer Kleinbus, der gestern Abend noch nicht hier gewesen war. Zwei Männer in weißer Schutzkleidung gingen darauf zu und gaben einem Polizisten in Uniform einige Behälter. Was war denn das? Die Spurensicherung? Ich lief auf die Absperrung zu. Ein paar Studenten standen in der Dämmerung herum und betrachteten schweigend die Vorgänge.
»Wisst ihr, was passiert ist?«, fragte ich atemlos. »Ein Feuer im Archiv. Letzte Nacht. Ein Doktorand ist ums Leben gekommen. Erstickt oder verbrannt. Sie wissen es noch nicht genau.«
Der Junge sprach wie ein Nachrichtensprecher. Ohne jegliche Emotion. Offenbar war die Nachricht schon nicht mehr besonders aktuell.
»Aber ... wieso?«
»Erst war es nur ein Feuer«, fuhr der junge Student fort. »Sie haben es gelöscht und dann einen Toten im Archiv gefunden. Die Polizei sagt, es war Brandstiftung. Mehr wissen wir auch nicht.«
Ich machte sofort kehrt und ging so lange an der Absperrung entlang, bis sie an einem Baum endete. Von dort lief ich quer über das Gelände. Ein paar Polizisten, die Wache schoben, beäugten mich missbilligend, ließen mich jedoch passieren. Die dunklen Höhlen der ausgebrannten Räume waren weithin sichtbar. Löschgerät und Leitern standen neben dem Eingang herum. Ich lief so schnell ich konnte zu Janines Haus. Davids Wagen stand noch immer da. Der von Janine war verschwunden. Ich rannte die Treppe hinauf und klopfte gegen ihre Tür. Keine Reaktion.
Diese Vorwürfe. Wir sind schuld. War sie verrückt geworden? Ich trat wütend gegen die Tür. Hatte sie mich überhaupt von zu Hause aus angerufen? Womöglich war sie ganz woanders. Bei einer Freundin? Ich starrte Davids Wagen an und versuchte eine Verbindung zwischen der Tatsache herzustellen, dass er gestern Abend zunächst hier gewesen war und dann möglicherweise dort drüben im Archiv... Ich musste Klarheit haben. Ich kehrte um, ging diesmal nicht querfeldein, sondern die Straße entlang bis zur Haupteinfahrt der Universität. Es war Viertel vor sieben. Zwei Übertragungswagen parkten halb auf dem Gehsteig. Auf Monitoren konnte man verfolgen, was sich vor der Bibliothek abspielte. Die halbe County wusste anscheinend schon Bescheid. Hatte Janine im Frühstücksfernsehen von dem Unglück erfahren? Deshalb der schockierte Anruf? Aber wo war sie denn nur?
Ich fragte einen der Männer, die bei den Übertragungswagen standen, was passiert sei.
»Ein Feuer in der Hilkrest Library«, sagte er. »Ein Student hat sich angezündet.«
Ich schaute ihn bestürzt an.
»Weiß man das schon sicher?«
»Nein. Aber es sieht so aus. Die Pressekonferenz ist um neun.«
Ich schluckte. »Weiß man, wer das Opfer ist?«
»Ja. Ein gewisser David Lavell.«
Es war einfach zu unwirklich. David tot? Verbrannt? Ich ging weiter, ohne eine Ahnung zu haben, wohin. Zu Theo, dachte ich. Oder zu Gerda. Mit irgendjemandem musste ich reden.
Ich ging nach Hause und rief bei Theo an. Er hatte noch geschlafen und wusste von gar nichts.
»Das ist nicht wahr!«, rief er ungläubig. Eine halbe Stunde später saßen wir in einem Coffeeshop bei mir um die Ecke. Im Fernsehen meldete ein Lokalsender den Vorfall als Breaking News. Wir tranken Milchkaffee, kauten auf klebrigen Muffins herum und erfuhren immer wieder das Gleiche in leicht abgewandelter Form. Das Feuer war gegen Mitternacht ausgebrochen. Die Hillcrest Universitätsbibliothek war daraufhin sofort evakuiert worden. Der Brandherd hatte im Rückgebäude gelegen und war rasch gelöscht worden. Leider gab es einen
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