Der gestohlene Abend
Matthew.
Gegen sieben war ich wieder in Hillcrest. Ich parkte den Wagen vor Winfrieds Apartmentblock und brachte ihm die Schlüssel zurück.
»Schon wieder da?«
»Ja.«
»Komm rein.«
Ich war froh über die Einladung. Nur nicht allein sein. Erst dann wurde mir klar, dass Winfried natürlich über das Feuer würde reden wollen. Er holte zwei Bier aus dem Kühlschrank und fing auch schon an. Das Feuer, der Unfall, der Selbstmord. Ein Gerücht jagte das nächste. Winfried schob eine Schale
Nacho-Chips und Schmelzkäse in die Mikrowelle, holte sie eine Minute später wieder heraus und stellte sie vor uns auf den Tisch.
»Du siehst nicht besonders gut aus«, sagte er.
»Nein. Die Sache hat mich ziemlich mitgenommen.«
»Verstehe. Na ja, ihr habt ja schließlich im gleichen Seminar gesessen.«
»Nein«, widersprach ich. »Nach seinem Vortrag hat er sich abgemeldet.«
»Hm.« Winfried nickte. »Schon komisch.«
»Ja.«
Er griff nach einem Chip. Durch den Schmelzkäse war er völlig mit den anderen zusammengebacken. Mit einiger Mühe brach er endlich ein Stück ab und steckte es sich in den Mund. Ich tat es ihm gleich und kaute schweigend vor mich hin.
»Erst dieser Auftritt«, murmelte er, »und dann zündet er gleich das ganze Archiv an.«
»Wenn er es war«, widersprach ich. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Es muss ein Unfall gewesen sein.«
»Glaubst du?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht hat jemand anderes das Feuer gelegt«, sagte er.
»Vielleicht läuft hinter den Kulissen irgendeine Schweinerei? Das kommt ja vor bei feindlichen Übernahmen.«
»Was soll denn das heißen?«
»Na ja, neuerdings reden ja hier alle nur noch von diesem INAT mit seinem riesigen Budget und all den neuen Leuten, die sich überall ausbreiten. Sie besetzen die Posten in den wichtigen Gremien, schachern sich gegenseitig die Stellen zu, hieven sich gegenseitig auf die Lehrstühle, und das alles auf einem einzigen Ticket: De Vanders Theorie. Man bekommt ja allmählich den Eindruck, der Mann hätte die Literaturwissenschaft ganz allein erfunden.«
Die unterschwellige Spitze entging mir nicht. Ich leerte meine Bierdose zur Hälfte und suchte nach einem Weg, das Gesprächsthema zu wechseln. Aber worüber hätten wir sonst sprechen sollen?
»Vielleicht war es ja wirklich ein Anschlag?«, sagte Winfried.
»Worauf denn?«
»Auf das INAT.«
»Quatsch«, erwiderte ich.
»OK. Spaß beiseite. Ruth meint übrigens, du wärst begabt. Hast du dir schon überlegt, hierzubleiben? Ich denke, du hättest ganz gute Chancen, wenn du dich bewirbst.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich matt.
»Willst du denn zurückgehen?«
»So wie du redest, könnte man meinen, ganz Deutschland sei eine DDR«, sagte ich ein wenig gereizt.
»Ist es doch. Du solltest froh sein, dass du die Chance hast, da rauszukommen. Hier ist es auch kein Zuckerschlecken, aber wenigstens benutzt man nicht ausgerechnet die Geisteswissenschaften als bildungspolitische Kloake, in die man alles einleitet, wofür man anderweitig keine Verwendung hat.«
Da war es: Winfrieds Lieblingsthema. Seine Augen funkelten vor unterdrückter Empörung.
»In Deutschland kann doch noch die letzte taube Nuss achtzehn Semester lang an einer Universität herumlungern«, schimpfte er, »vorausgesetzt er taucht nicht in einem Seziersaal oder einem chemischen Labor auf, sondern in einem der sogenannten geisteswissenschaftlichen Fächer, wo dreihundert Leute beieinander sitzen und Studieren spielen. Reaktionäre Gesellschaften schließen Universitäten. Progressive öffnen sie für alle! Das Ergebnis ist das Gleiche. Die Massenuniversität ist eine Volksverarschung. Was solltest du dort wollen?«
»Du redest wie mein Vater«, sagte ich.
»Und?«
»Vielleicht liegt es ja an den Fächern«, sagte ich. »Vielleicht taugen sie einfach zu nichts mehr. Naturwissenschaft und Technik haben eben gewonnen.«
Er schaute mich entrüstet an.
»Vielleicht sind die Geisteswissenschaften einfach erledigt«, fuhr ich fort. »Nur noch Unterhaltung auf hohem Niveau.«
Er schüttelte resigniert den Kopf und lehnte sich zurück.
»Weißt du, als ich damals aus Freiburg abgehauen bin, war gerade ein Manifest im Umlauf. Es hieß: Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften oder so ähnlich. Der Verfasser war Germanist und fragte sich unter anderem, ob es überhaupt Gedanken gibt und nicht etwa nur Wörter. Er war übrigens gerade dabei, sich zu habilitieren. Mittlerweile ist er
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