Der gestohlene Abend
bestimmt Professor geworden. Das geht heute alles.«
Er machte eine Pause, wohl um mir Gelegenheit zu geben, die Bedeutung dieser Aussage zu erfassen.
»Das ist etwa so«, fuhr er fort, »wie wenn sich ein Biologe vor seinen Petrischalen fragt, ob es vielleicht gar kein Leben gibt, sondern nur Zellhaufen. Genau genommen geht es ja wohl auch nur noch darum. Geist. Seele. Das Leben. Diese ganzen schwammigen Begriffe. Das stört einfach. Es ist verworren, unklar, lästig. Da ziehen die Naturwissenschaft, die radikale Aufklärung und die vereinigte Linke alle an einem Strang. Wie viel schöner ist es doch, wenn man alles auf anonyme, blinde und automatische Vorgänge reduzieren kann. Es gibt keine handelnden Menschen, die Gedanken oder Ideen haben und über die Konsequenzen ihres Tuns nachdenken könnten. Nein. Es gibt nur vibrierende Zellhaufen, die Wörter ausscheiden, und soziale Umstände, die nichts als Opfer erzeugen.«
Sein Tonfall war schneidend geworden. Ich schwieg. Ich war jetzt nicht in der Verfassung, diese Art von Diskussion zu führen.
»Die großen Fragen wissenschaftlich beantworten zu wollen«, sagte er verächtlich, »ist die größte Lachnummer des Jahrhunderts. Aber in Freiburg hat niemand gelacht. Im Gegenteil. Alle fanden das toll. Man sah ja auch sofort, warum. Mit so einem Denken kann man endlich einen Schlussstrich unter all die lästigen Fragen ziehen. Unter Auschwitz. Unter den Gulag. Unter jedes noch so unfassbare Versagen der Zivilisation. Es gibt ja keine Gedanken. Keine Schuld. Keine Täter. Keine Moral. Die Gesellschaft, die Struktur, irgendein Code ist an allem schuld.«
Winfrieds Wangen hatten sich gerötet.
»Es gibt keine Gedanken«, wiederholte er voller Hohn. »Nur Wörter. Codes. Strukturen. Wie bei deinem Doktor De Vander. Und damit wird man in Deutschland heutzutage Professor. Na dann, gute Nacht!«
Ich erwiderte nichts. Was auch? Es war heute zu viel geschehen.
Kapitel 41
Die meisten Studenten erschienen am nächsten Tag erst gar nicht. Die wenigen, die da waren, spazierten verloren herum, suchten den Ort des Geschehens auf oder standen in Grüpp-chen beieinander und diskutierten.
Ich traf zwei Studentinnen aus Miss Goldensons Seminar, die ich flüchtig kannte. Sie sahen verstört aus und erkundigten sich bei mir, ob ich schon Genaueres wüsste. Eine von ihnen wollte wissen, ob ich Janine gesehen hätte.
»Sie muss völlig fertig sein«, sagte die andere. »Er war doch ihr Freund, oder?«
»Ja«, sagte ich.
Gegen Mittag meldeten die Nachrichten, dass der Universitätsbetrieb auch heute noch unterbrochen blieb. Wann die Bibliothek wieder geöffnet werden könne, sei noch nicht bekannt. Der größte Verlust sei zweifelsohne das Menschenleben, welches der Brand gefordert habe. Der Dekan habe für Freitag um 14 Uhr im Brooker Auditorium eine Trauerfeier anberaumt.
Am frühen Nachmittag saß ich wieder zu Hause und starrte die Wände an. Jede Initiative erschien mir sinnlos. Janine hatte auf meine Botschaft nicht reagiert. David war tot. Verbrannt oder erstickt. Ich dachte an seine Eltern, die sich bestimmt auf dem Weg hierher befanden. Ich hatte keine Ahnung, wer sie waren. Sie existierten in meinem Kopf als eine Prozession gläubiger Juden, die am Jom-Kippur-Tag irgendwo in Portland zu Fuß zur Synagoge gingen.
Dann klingelte das Telefon. Es war Mr. Billings. Er erkundigte sich, ob mit mir alles in Ordnung sei. Es täte ihm sehr leid, aber im Rahmen der Untersuchungen des Vorfalls sei mehrfach mein Name genannt worden. Daher wolle die Polizei meine Aussage hören. Ob ich dazu bereit sei? Eine Aussage? Ich sollte verhört werden? Warum? Voll übler Vorahnungen machte ich mich auf den Weg.
Billings empfing mich ohne weitere Erklärung und brachte mich in einen Raum neben seinem Büro. Dort musste ich an der Spitze eines ovalen Konferenztisches Platz nehmen. Am anderen Ende saßen zwei Männer in Polizeiuniform und ein weiterer Mann, den ich ebenso wenig kannte. Einer der Polizisten blätterte in Dokumenten. Billings nahm neben ihm Platz und schaute dann genauso ernst vor sich wie die anderen auch. Aus den herumstehenden Kaffeebechern und einer fast leeren Donut-Schachtel schloss ich, dass ich nicht der Erste war, der befragt wurde. Der wievielte Zeuge mochte ich sein? Der jüngere der beiden Polizisten schrieb irgendetwas auf. Er war wohl der Protokollführer.
»Ich bin Mr. Delany«, sagte der Mann ganz außen. »Guten Tag, Matthew.«
»Guten Tag, Sir«, erwiderte
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