Der gestohlene Abend
Ich ging sofort wieder hinein und gab meine Jacke an der Garderobe ab. Die Dame an der Eingangskontrolle warf nur einen kurzen Blick auf meinen Leserausweis und schaute mich nicht einmal an. Davids Karteikarte lag noch immer dort. Nicht zu ändern. Ich musste schnell handeln. Ich ging sofort an einen der Computer und gab Davids Benutzernummer ein. Wie erwartet, verlangte die Maschine ein Passwort. Ich probierte die erste Möglichkeit aus, die ich mir während des Wartens überlegt hatte. Ich tippte: JANINE.
Ich konnte es selbst kaum glauben. Ich war eingeloggt. Mit wenigen Mausklicks gelangte ich zu dem Untermenü, das mich interessierte: HISTORIQUE DE VOS RECHERCHES. Ich klickte darauf. Die Liste erschien sofort. Alles war exakt gespeichert. Datum, Uhrzeit, Signatur. Jedes Medium, das David zwischen dem 3. und 22. August bestellt hatte, war aufgelistet. Ich drückte auf IMPRIMER, schloss die Seite und loggte mich aus. Kurz darauf hörte ich das Sirren eines Nadeldruckers. Er stand neben der Buchausgabe. Ich nahm die ausgedruckten fünf Seiten heraus, faltete sie zusammen und verließ die Bibliothek, so schnell ich konnte. Janine musste das sehen. Vielleicht war in diesen alten Zeitungen eine Erklärung für Davids unerklärliches Verhalten zu finden? Ich konnte das nicht alles allein machen. Es war zu viel Material. Janine musste mir helfen. Und wir mussten endlich aufhören mit diesem Theater.
Kapitel 54
»Sie hat keine Nachricht hinterlassen?«
»Nein.«
»Sagen Sie mir bitte unbedingt Bescheid, wenn sie zurückkommt.«
»Ich werde ihr ausrichten, dass sie sich bei Ihnen melden soll, Monsieur.«
Ich ging in mein Zimmer, hielt es aber dort nicht lange aus. War sie womöglich abgereist? Zurück nach Paris? Ich ging zu ihrem Zimmer. Es lag einen Stock höher. Ich klopfte und drückte schließlich die Klinke. Die Tür war verschlossen. Ich nahm den Lift ins Erdgeschoss, kümmerte mich nicht darum, was der Rezeptionist vielleicht von mir denken würde, und fragte, ob Madame Uccino auch wirklich noch im Hotel gebucht sei. Der Mann blieb ganz geschäftsmäßig und sagte, ja, sie habe ihren Zimmerschlüssel noch.
Nicht sehr beruhigt fuhr ich wieder hinauf. Sie konnte jeden Augenblick zurückkommen, ihren Schlüssel abgeben und verschwinden. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie das tun würde, erschien mir mit jedem Augenblick höher. Ich hätte ihr in Paris sagen müssen, was ich vermutete und was ich vorhatte. Oder nicht? Warum hatte ich sie nur hintergangen? Was war nur mit mir los?
Um zwanzig vor sieben klingelte endlich das Telefon.
»Janine?«
»Ja.«
»Ich komme hoch.«
»Nein. Ich will duschen und muss mich einen Moment ausruhen.«
»In einer halben Stunde also.«
»Nein. Um halb acht. In der Lobby. Ich habe in einem Restaurant in der Nähe einen Tisch reserviert.«
»OK.«
»Um halb acht.«
Sie legte ohne Gruß auf. Ich duschte ebenfalls, zog mir frische Sachen an und saß schon ab zehn nach sieben dort unten. Ihre Stimme war schwer zu ertragen gewesen. Sachlich. Kalt. Als hätte sie sich jedes Wort vorher genau überlegt. Es war fast acht, als die Fahrstuhltür endlich aufging und sie die Lobby betrat. Sie trug das blaue Kleid aus Paris und darüber ihren Trenchcoat. Ob sie bemerkte, dass ich den Kaschmirpulli an hatte? Wie sie aussah! Wir sollten überhaupt nie mehr reden, dachte ich, sondern uns immer nur küssen. Sie kam auf mich zu, blieb jedoch weit von mir entfernt stehen, sodass jede körperliche Berührung ausgeschlossen war. Gegen ihre Gewohnheit war sie leicht geschminkt. Sie trug Lippenstift, Eyeliner und sogar ein wenig Mascara. Kam mir ihr Gesicht deshalb so ernst und unwiderstehlich vor?
»Wie war dein Tag?«, fragte sie und ging bereits zum Hotelausgang.
»Ich war in der Bibliothek. Und du? Was hast du gemacht?«
»Ich habe mir Brüssel angeschaut. Paris ist schöner.«
Wir liefen wie zwei Fremde nebeneinander die Straße entlang. Sie bog plötzlich nach links ab, ohne mich zu warnen, blieb aber immerhin kurz stehen, bis ich wieder zu ihr aufgeschlossen hatte.
»Da vorn ist es schon«, sagte sie.
Ich ergriff sie am Arm und hielt sie fest.
»Janine ...«
»Hier? Auf der Straße?«
»Ja. Verdammt, können wir das nicht alles klären, bevor wir essen gehen?«
»Klären? Es gibt nichts zu klären, Matthew. Es gibt höchstens etwas zu entscheiden. Meinst du, dass die Straße der richtige Ort dafür ist?«
Wir legten schweigend die letzten fünfzig Meter zurück und betraten
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