Der gestohlene Traum
anzutreffen waren. Schlecht war nur, dass sie auf dem Weg dorthin an dem Auto Vorbeigehen musste. Aber vielleicht würde sie Glück haben und vorher noch jemanden treffen.
Und sie hatte tatsächlich Glück. Sie erblickte plötzlich eine sympathische Frau in Jeans und Jacke, mit einer sportlichen Mütze auf dem Kopf. Sie hielt einen riesigen, Furcht erregenden Dobermann an der Leine. Nadja holte tief Luft und sagte die auswendig gelernten Sätze.
»Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mich vielleicht bis zu meinem Hauseingang begleiten? Ich wohne in diesem Haus dort, aber ich habe Angst, allein hineinzugehen. Es ist dort dunkel, weil die Beleuchtung ausgefallen ist, und die Jungs machen ständig Unsinn und erschrecken alle.«
Aus irgendeinem Grund hatte sie sich nicht entschließen können, der Frau etwas von dem grünen Auto mit der Barbiepuppe zu sagen, sie wäre sich lächerlich vorgekommen. Ein dunkler Hauseingang war etwas anderes, das verstand jeder. Aber das Auto . . . Vielleicht war das alles Unsinn.
»Natürlich, Kleine, wir begleiten dich gern. Nicht wahr?«, sagte die Frau, zu ihrem Dobermann gewandt.
Nadja gefiel es nicht, dass die Frau sie »Kleine« genannt hatte, aber sie war dieser Fremden trotzdem schrecklich dankbar. Während sie an dem Auto vorübergingen, bemühte sie sich, nicht noch einmal zu der Puppe im erleuchteten Innern des Wagens zu sehen. Die Puppe war so schön, dass sie sogar der erwachsenen Frau auffiel.
»Schau mal, welch eine Pracht!«, rief die Frau aus und verlangsamte ihren Schritt.
Aber Nadja senkte ihren Kopf und ging schnell an dem Auto vorüber.
Es dauerte lange, bis sie an der Haustür waren, weil der Hund ständig stehen blieb und alles beschnupperte, was auf dem Weg lag, Bäume, Sträucher und Mauern. Endlich waren sie da. Die Frau betrat das Haus als Erste und hielt Nadja die Tür auf.
»Warum hast du mich angelogen?«, sagte sie vorwurfsvoll. »Hier ist es hell, die Beleuchtung ist völlig in Ordnung. Schämst du dich nicht?«
Nadja suchte krampfhaft nach einer Rechtfertigung, sie wollte gerade etwas sagen – das Licht hätte einen ganzen Monat nicht gebrannt, wahrscheinlich hätte man es gerade erst repariert –, aber in diesem Moment fiel die Tür hinter ihr leise ins Schloss. Nadja wollte sich umdrehen, um nachzusehen, wer das Haus betreten hatte, aber aus irgendeinem Grund gelang ihr das nicht. Ihre Beine waren plötzlich wie aus Watte, und es wurde dunkel um sie.
* * *
Arsenn war sehr zufrieden. Der Junge hatte keine schlechte Arbeit geleistet. Es war nicht umsonst gewesen, dass man ihn von Kindesbeinen an gedrillt, zu Lehrern und Trainern geschickt und viel Geld in seine Ausbildung investiert hatte. Und alles das hatte man nicht etwa deshalb getan, weil er schlecht in der Schule gewesen war, ganz im Gegenteil, er hatte von Anfang an zu den Klassenbesten gehört. Aber was war ein Klassenbester in einem so erbärmlichen Schulsystem? Nicht etwa derjenige, der wirklich etwas wusste, sondern einfach nur der, der in einem Haufen von Dummköpfen der am wenigsten Dumme war. Aber Arsenn wollte, dass der Junge wirklich etwas lernte, eine wirkliche Ausbildung genoss.
Arsenn hatte sein Leben lang bei einer Behörde gearbeitet, die in unmittelbarer Beziehung zum Geheimdienst stand, und wusste, dass ein frisch angeworbener Agent etwas ganz anderes war als einer, der schon seit langem in seinen Diensten stand. Den Neulingen konnte man noch nicht trauen, zumal man bei ihrer Anwerbung meistens mit Drohungen arbeiten, materielle Notlagen, Angst, Gier, Schwächen und Leidenschaften ausnutzen musste. Doch Arsenn hatte auch andere Leute, solche, auf die er sich felsenfest verlassen konnte. In der Zusammenarbeit mit ihnen erfüllte er die Aufträge, die ihm von verschiedenen kriminellen Verbänden erteilt wurden. Natürlich waren seine Klienten manchmal auch Einzelpersonen, wie zum Beispiel Gradow, aber das kam höchst selten vor. Arsenns Dienste kosteten sehr viel Geld, das konnten nur Organisationen mit hohen Einnahmen bezahlen. Und auch Gradow war im Grunde keine Einzelperson, der ganze Streit war ja entbrannt, als die Finanzgrundlagen seiner Partei in Gefahr geraten waren.
Ja, Arsenn hatte auch seine Topagenten, aber das waren bis jetzt noch nicht viele. Die taktische Vorgehensweise bei ihrer Einschleusung in die Behörden des Innenministeriums war noch nicht perfekt ausgearbeitet, aber erste Erfolge waren bereits zu verzeichnen.
Solche Leute wurden bereits in jungen
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