Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
Vom Netzwerk:
erwiderte seine Tochter. »Ich werde tun, was du sagst, aber ich verstehe es nicht.«
    * * *
    Heute, am Tag vor Silvester, kehrte Nadja von einem Besuch bei einer ihrer Schulfreundinnen nach Hause zurück. Die beiden Mädchen waren im Kino gewesen, anschließend hatten sie Tee getrunken und köstliche, von der Großmutter der Freundin gebackene Piroggen gegessen. Im Dezember waren die Tage kurz, als Nadja nach fünf Uhr die Wohnung der Freundin verließ, war es draußen bereits völlig dunkel. Vor dem Haus ihrer Freundin stand das dunkelgrüne Auto. In der Dunkelheit war die Farbe zwar nicht zu erkennen, aber Nadja hatte dieses Auto schon bei Tageslicht gesehen, auf dem Heimweg vom Kino. Das Auto hatte zwischen dem Kino und einem Schuhgeschäft geparkt, und Nadja war es aufgefallen, weil hinter der Heckscheibe eine blonde Barbiepuppe gestanden hatte, der Traum aller ihrer Freundinnen. Nadja und Rita waren an einer Straßenecke stehen geblieben, zu Nadja nach Hause ging es geradeaus, zu Rita nach rechts.
    »Ich werde wohl nach Hause gehen«, sagte Nadja unentschieden, während sie die violette Wattejacke fester um ihren Körper zog und ihren Schal richtete. In Wirklichkeit hatte sie keine Lust, in die leere Wohnung zu gehen, aber sie wartete höflich auf die Einladung ihrer Freundin.
    »Stell dich nicht an«, sagte Rita, ein hoch aufgeschossenes, eckiges Mädchen, das in der Schule nie über die Note »Drei« hinauskam und das Wort »müssen« nicht anerkannte. »Wir gehen zu mir, meine Oma bäckt heute Piroggen. Komm schon, so kriegst du wenigstens etwas Anständiges in den Magen.«
    »Ich habe meinem Vater versprochen, gleich nach dem Kino nach Hause zu gehen. Er wird mit mir schimpfen«, sagte Nadja, matt gegen sich selbst ankämpfend. Schmackhafte Hausmannskost war seit dem Tod ihrer Mutter eine Seltenheit für sie. Ihr Vater konnte nicht kochen und sie selbst im Grunde auch nicht. Und die Piroggen von Ritas Oma waren in der ganzen Klasse berühmt. Sie galten als echtes Kunstwerk.
    »Stell dich nicht an«, sagte Rita erneut, es war ihr Lieblingsspruch. »Du rufst an und sagst, dass du bei mir bist, meine Oma bestätigt es, wenn nötig. Mach schon, komm.« Die lange Rita legte fürsorglich den Arm um die Schulter ihrer Freundin.
    Die Mädchen bogen um die Ecke, und in diesem Moment erblickte Nadja aus dem Augenwinkel die Barbiepuppe. Der Wagen fuhr langsam an ihnen vorbei und blieb kurz vor der Kreuzung stehen, hinter der ein vierstöckiges Haus stand, gefolgt von dem fünfzehnstöckigen, in dem Rita wohnte. Nadjas Herz krampfte sich zusammen in einem unguten Vorgefühl, aber schließlich war sie ja nicht allein, sie ging neben ihrer Freundin zu ihr nach Hause, und dort war die Großmutter. Und wenn sie sich später auf den Heimweg machen würde, würde das Auto verschwunden sein. Davon war das Mädchen aus irgendeinem Grund überzeugt. . .
    Doch das Auto war nicht verschwunden. Im Innern brannte Licht, und die Barbiepuppe in dem auffällig roten, mit glitzernden Pailletten besetzten Abendkleid war deutlich hinter der Heckscheibe zu sehen. Nadja erschrak, aber sofort versuchte sie, sich zu beschwichtigen. Wie kam sie auf den Gedanken, dass das Auto ausgerechnet auf sie wartete? Es stand einfach da und ging sie überhaupt nichts an.
    Entschiedenen Schrittes ging sie weiter zur Kreuzung und bog am Schuhgeschäft nach rechts ab, zu ihrem Haus. Hier war es etwas heller, die Straßenlaternen brannten, und Leute gingen vorbei. Nadja beruhigte sich etwas, aber gleich darauf sah sie, wie das Auto sie langsam überholte und mit aufleuchtenden Bremslichtern nah vor ihrem Hauseingang stehen blieb. Nadja fühlte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie verlangsamte ihren Schritt und versuchte sich zu erinnern, was man in einer solchen Situation tun musste. Natürlich, man musste einen Passanten mit Hund ansprechen. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass jemand, der seinen Hund ausführte, wahrscheinlich ganz in der Nähe wohnte und deshalb vermutlich nicht zu denen gehörte, die sie bedrohten. Leute, die kleine Mädchen belästigten, taten das gewöhnlich nicht in der Nähe ihres eigenen Wohnortes. Am besten wäre es gewesen, einer Frau mit Hund zu begegnen. Und der Hund sollte möglichst groß sein.
    Nadja blickte sich um. Überall nur Häuser, nirgends eine Parkanlage, wo man Hundebesitzern hätte begegnen können. Aber gleich neben ihrem Haus befand sich ein großer begrünter Hof, und Nadja wusste, dass dort immer Leute mit Hunden

Weitere Kostenlose Bücher