Der gestohlene Traum
eine Barbiepuppe würde ihr ganz sicher auffallen. Und wenn das Mädchen über eine gute Auffassungsgabe verfügte, würde es zweifellos erschrecken. Wenn sie aber dumm war und die Belehrungen ihres Vaters nicht ernst nahm, würde sie sofort auf die Puppe hereinfallen, und der Rest war dann ein Kinderspiel. Arsenn war zufrieden. Die Barbiepuppe war eine ausgezeichnete Idee. Er hätte gern gewusst, wie dieser kaltblütigen, unerschütterlichen Kamenskaja jetzt zumute war.
* * *
Das Läuten an der Wohnungstür ließ Nastja zusammenzucken. Sie wandte sich nicht vom Fernsehschirm ab und warf Ljoscha nur einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
»Machst du auf?«
»Muss das sein?«, entgegnete Ljoscha und rührte sich nicht vom Fleck.
Nastja zuckte mit den Schultern. Es läutete noch einmal.
»Wahrscheinlich muss es sein. Man kann ja nicht wissen, wer es ist. . .«
Ljoscha ging hinaus auf den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Nastja hörte, wie sich draußen der Schlüssel im Schloss umdrehte, und gleich darauf erklang die Stimme von Wolodja Larzew.
»Ist Nastja zu Hause?«
Sie atmete erleichtert auf. Nein, zum Glück waren es nicht sie. Doch Larzew war kaum wiederzuerkennen. Er war grau im Gesicht, seine Lippen waren blau verfärbt, wie bei einem Herzkranken, in seinen Augen stand der Wahnsinn. Er hatte, ohne abzulegen, das Zimmer betreten und sich mit dem Rücken an die Tür gelehnt, die er vor Tschistjakows Nase zugeschlagen hatte. Ist er so schnell gerannt?, fragte Nastja sich verwirrt.
»Sie haben Nadja entführt«, stieß er endlich hervor.
»Wie bitte?« Nastjas Stimme war tonlos geworden.
»Als ich nach Hause kam, war sie nicht da, und gleich darauf läutete das Telefon. Das Kind lebt, sagte man mir, es geht ihm gut, vorläufig jedenfalls.
»Was wollen sie?«
»Du musst aufhören, Anastasija. Ich flehe dich an, du musst die Ermittlungen im Fall Jeremina einstellen. Ich bekomme Nadja nur dann zurück, wenn du damit aufhörst.«
»Warte, warte!« Sie setzte sich aufs Sofa und presste beide Hände an die Schläfen. »Lass uns von vorn anfangen, ich verstehe überhaupt nichts.«
»Mach mir nichts vor, du verstehst alles bestens. Du hast genug Selbstbeherrschung und Kaltblütigkeit besessen, um dich von ihnen nicht einschüchtern zu lassen und den Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Jetzt haben sie beschlossen, über mich zu gehen. Ich schwöre dir, Anastasija, ich schwöre dir bei allem, was auf der Welt heilig ist: Wenn Nadja etwas zustößt, werde ich dich erschießen. Ich werde dich so lange verfolgen, bis . . .«
»Ist gut, das habe ich verstanden«, unterbrach Nastja ihn. »Was muss ich tun, damit sie dir deine Tochter zurückgeben?«
»Du musst Kostja Olschanskij sagen, dass man im Fall Jeremina nichts mehr tun kann. Kostja wird dir glauben und den Fall abschließen.«
»Das wird er nach den Feiertagen ohnehin tun. Früher geht es nicht, weil das Gesetz es nicht erlaubt. Was willst du von mir?«
»Ich will, dass du aufhörst zu ermitteln und dass das Verfahren eingestellt wird. Und zwar nicht nur zum Schein, sondern de facto«, sagte Larzew langsam und sah Nastja fest in die Augen.
»Ich verstehe dich nicht. . .«
»Glaubst du etwa, ich kenne Knüppelchen nicht?«, entgegnete Larzew. »Ein Fall wie dieser! Der stinkt hundert Kilometer gegen den Wind. Ich habe zehn Tage investiert, um etwas daran zu drehen, das Schlimmste zu vertuschen, aber es scheint mir nicht gelungen zu sein, denn du hast es ja trotzdem gemerkt. Solche Fälle gibt Knüppelchen nicht auf, die würde er bis an sein Lebensende zu knacken versuchen. Erzähl mir nichts davon, dass das Verfahren eingestellt werden soll.«
»Wie hast du erfahren, was wir Vorhaben?«
»Ich bin von selbst darauf gekommen. Wenn du bemerkt hast, wie ich an diesem Fall gearbeitet habe, dann musst du auch gewusst haben, dass ich euer Spiel durchschaue. Und du musst auch gewusst haben, warum ich tat, was ich getan habe. Und da es so ist, kannst du dich jetzt nicht herausreden. Du nicht und auch Knüppelchen nicht. Dazu kenne ich euch zu gut.«
»Und was sagt Kostja?«
»Er sagt, dass du mich durchschaut hast und dass ich demnächst in Schwierigkeiten geraten werde. Aber was tut Olschanskij zur Sache, Nastja? Die Anweisung zur Einstellung des Verfahrens ist ein Stück Papier, das für den Untersuchungsführer verbindlich ist, aber nicht für uns, die Ermittler. Der Untersuchungsführer legt das Papier in den Safe und vergisst die Sache, sofern wir ihm
Weitere Kostenlose Bücher