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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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eine Gefängniszelle, die man mit der geliebten Frau teilt!«, erwiderte Ljoscha fröhlich. »Wie lange werden wir dieses Glück denn auskosten dürfen?«
    »Etwa fünf Tage. Wird das reichen, Major? Werden deine Freunde mit fünf Tagen auskommen, um in dieser Zeit alle Spuren zu verwischen?«
    Wieder glaubte Nastja, ein winziges Zucken in Larzews Augen zu bemerken, diesmal war sie sich fast sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie begriff, dass sie den richtigen Ton gefunden hatte, dass nun wahrscheinlich nicht mehr viel fehlte, bis Larzew zur Besinnung kommen und die Dinge mit nüchternem Blick betrachten würde. Solange das nicht geschah, konnte er jeden Moment auf den Abzug drücken, der Auslöser konnte beliebig sein, eine winzige Bewegung, die er nicht einschätzen konnte, ein Geräusch, das plötzliche Läuten des Telefons. Am wichtigsten war es jetzt, nicht aus dem Konzept zu geraten und den gefundenen Ton nicht wieder zu verlieren. Hoffentlich würde Ljoscha keinen Schnitzer machen.
    »Dürfen wir uns in dieser Zeit wenigstens ein Brot holen gehen?«, fragte Tschistjakow sachlich nach, so, als ginge es nicht um eine tödliche Bedrohung, sondern nur darum, ein paar Kleinigkeiten in Bezug auf den bevorstehenden Tagesablauf zu klären.
    »Nein, Ljoschenka. Wir dürfen die Wohnung nicht verlassen«, erklärte Nastja geduldig, ohne den Blick von Larzew zu wenden.
    »Und was ist mit dem Müll? Dürfen wir den hinuntertragen?«
    Manchmal vollbrachte Professor Tschistjakow wahre Wunder an Pedanterie. Und manchmal konnte er, der wunderliche, zerstreute, zottelhaarige Ljoscha, Nastjas erster Mann und Freund von Jugend an, auch erstaunlich scharfsichtig und weitblickend sein.
    »Den Müll dürfen wir hinuntertragen«, gestattete Nastja großzügig und hörte dabei nicht auf, Larzew zu beobachten. Er gibt auf, dachte sie erleichtert, langsam gibt er auf.
    »Ich verstehe trotzdem nicht, wie wir ohne Brot auskommen sollen«, sagte Ljoscha unmutig. »Ich war heute zwar einkaufen, um uns für die Feiertage einzudecken, für fünf Tage sind wir durchaus versorgt, aber ich habe natürlich nicht genügend Brot gekauft. Und die frische Milch wird uns auch fehlen. Du weißt ja, Nastja, ohne Brot und Milch kann ich nicht leben. Frag deinen Major doch einmal, ob er vielleicht ein Auge zudrücken kann.«
    Jetzt übertreibt er, dachte Nastja. Bisher hat er sich völlig richtig verhalten, man musste die Absurdität der Situation tatsächlich auf die Spitze treiben, um sie zu entschärfen, aber nun wurde es zu viel. Hoffentlich würde Larzew jetzt nicht wütend werden.
    Larzew sah beharrlich zur Wand. Nastja sah Larzew an, Ljoscha Tschistjakow sah Nastja an. Er bemerkte, dass sie unwillig ihren Mund verzog.
    »Gut, Kinder, lassen wir es«, lenkte er ein, so, als sei nichts gewesen. »Ich will mich nicht einmischen. Es ist, wie es ist, daran lässt sich wohl nichts ändern. Eure Arbeit ist eine besondere, davon verstehe ich sowieso nichts. Ich wüsste nur gern, was die Dienstwaffe von Major Larzew hier zur Sache tut.«
    »Das kann ich dir sagen«, erwiderte Nastja leise. »Major Larzew hält mich für eine hirn- und herzlose Kreatur. Man hat seine Tochter entführt, und ihr weiteres Schicksal hängt von meinem und deinem Verhalten ab. Und der Major glaubt, ich könnte etwas tun, das seinem Kind schaden wird. Er glaubt, ich wüsste gar nicht, was ein Kind ist, weil ich selbst keine Mutter bin und die Gefühle eines Vaters nicht verstehen kann. Er glaubt, dass mir seine Tochter völlig gleichgültig ist.«
    Ljoscha wandte seinen Blick zu Larzew und sah ihn angespannt an.
    »Glaubst du das wirklich?«, fragte er.
    Larzew antwortete nicht. Er stand seitlich neben Ljoscha, und das, was in ihm vorging, konnte Ljoscha nur erahnen, wenn er Nastja ansah. Jede geringste Veränderung in der Mimik des nächtlichen Gastes schien sich in ihrem Gesicht abzuzeichnen wie in einem Spiegel. Ihre Nasenflügel bebten, ihre Wangenknochen traten plötzlich scharf hervor, und Tschistjakow begriff, dass die Gefahr ihren Höhepunkt erreicht hatte. Jetzt fehlte nur noch ein winziger Impuls von außen, und dann würde Larzew entweder schießen oder zur Besinnung kommen. Es musste ein sehr feiner, kaum merklicher, aber höchst genau überlegter Impuls sein. Und Tschistjakow wusste, dass er von ihm ausgehen musste. Er befand sich jetzt auf der Bühne, alle Augen im Saal waren auf ihn gerichtet, und er musste etwas sagen. Anschließend würde entweder

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