Der gestohlene Traum
Den beiden Männern war das Mädchen aufgefallen, weil es mit seinen Begleitern deren Stammplätze im Zug belegt hatte. Die Männer wohnten beide in Dmitrow, sie waren Nachbarn, machten Schichtarbeit in ein und demselben Betrieb in Moskau und fuhren seit vielen Jahren täglich um die gleiche Zeit in die Hauptstadt. Aus irgendeinem Grund nahmen sie immer den zweiten Wagen von vorn und dort das zweite Abteil in Fahrtrichtung. Und da langjährige Gewohnheiten manchmal stärker waren als jede Vernunft, war es inzwischen so weit gekommen, dass die Männer immer beizeiten zum Bahnhof fuhren, um ihre Stammplätze belegen zu können. Aber an diesem Tag war man ihnen zuvorgekommen, die Plätze waren schon besetzt, und das war so ungewöhnlich, dass die Männer sich noch gut an die Situation erinnerten.
Während der Fahrt hatten sie die seltsamen Fahrgäste verstohlen beobachtet und sich halblaut darüber unterhalten, was die attraktive, teuer gekleidete junge Frau mit dem hochmütigen Gesichtsausdruck und dem seltsam zerquälten, nach innen gerichteten Blick mit diesen primitiven Bodybuildern gemeinsam haben könnte. Die Typen versuchten mehrfach, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber die Frau antwortete nur sehr einsilbig oder gar nicht. Gelegentlich ging sie hinaus, um eine Zigarette zu rauchen, wobei einer der Männer ihr stets folgte. Als der Zug nach anderthalb Stunden in Dmitrow hielt, waren die beiden Freunde zu dem Schluss gekommen, dass die junge Frau in einer geschäftlichen Angelegenheit unterwegs war und ihre persönlichen Leibwächter mitgenommen hatte. Obwohl auch das nicht ganz logisch zu sein schien. Wenn sie sich eine persönliche Leibwache leisten konnte, musste sie auch das Geld für ein eigenes Auto haben. Solche Leute fuhren gewöhnlich nicht mit dem Zug.
Es konnte also festgestellt werden, dass Vika Jeremina sich am Sonntag, dem 24. Oktober, in Begleitung von drei jungen Männern im Zug von Moskau nach Dubna befunden hatte. Der Zug fuhr um 13.51 Uhr vom Moskauer Saweljewskij-Bahnhof ab und erreichte um 15.34 die Bahnstation bei Kilometer 75. Vikas Leiche wurde eine Woche später in der Nähe dieser Bahnstation gefunden, der Tod war in der Zeit vom 31. Oktober bis 1. November eingetreten. Es musste herausgefunden werden, wo sie eine ganze Woche lang gewesen war.
Genau zu diesem Zeitpunkt wurde Morozow mitgeteilt, dass man in der Petrowka ein Ermittlerteam unter der Leitung der Kamenskaja gebildet hatte und dass er in diesem Team mitarbeiten sollte. Jewgenij tat alles, um ihr den Kontakt mit ihm so schwer wie möglich zu machen, und seine Bemühungen waren durchaus von Erfolg gekrönt. Nastja verlangte nicht viel von ihm, und so blieb ihm genügend Zeit, um seinen Alleingang im Mordfall Jeremina fortzusetzen. Die wenigen Aufgaben, die ihm übertragen wurden, erfüllte er mit größter Sorgfalt, nur von den Resultaten seiner Arbeit berichtete er Nastja auf seine Weise. Er gab ihr keine falschen Informationen, Gott bewahre, er sagte ihr nur nicht alles, sondern lediglich das, was für seine eigene Version des Falles nicht von Bedeutung war. So erfuhr Nastja auch nichts davon, dass Morozow zwei Augenzeugen gefunden hatte, die Vika im Zug gesehen hatten, dass Datum und Uhrzeit dieser Zugfahrt genau bekannt waren und eine ziemlich detaillierte Beschreibung der drei Männer existierte, die Vika begleitet hatten. Angeblich hatten Morozows Recherchen auf dieser Bahnstrecke nichts ergeben.
Während Nastja gemeinsam mit Andrej Tschernyschew Freunde und Bekannte von Vika Jeremina befragte, während sie Vikas verwickelte Beziehungen zu Boris Kartaschow und dem Ehepaar Kolobow zu erforschen versuchte, während sie der Frage nachging, von wem und aus welchem Grund Kolobow verprügelt worden war, während sie dies und eine Menge anderer notwendiger Dinge tat, recherchierte Hauptmann Morozow in den Ortschaften, die im Umkreis des Fundortes der Leiche lagen. Er zeigte den Leuten Vikas Foto, beschrieb das Äußere ihrer drei Begleiter und versuchte zu erfahren, wo die Jeremina sich in der besagten Woche aufgehalten hatte. Als Nastja herausgefunden hatte, dass Vika auf dem Moskauer Saweljewskij-Bahnhof gesehen wurde, aller Wahrscheinlichkeit nach am Sonntag, dem 24. Oktober, war bereits so viel Zeit verstrichen, dass es nicht mehr viel Sinn machte, noch einmal mit den Ermittlungen auf der bewussten Bahnstrecke anzufangen. Morozow hingegen hatte zu dieser Zeit bereits das Haus gefunden, in dem Vika nach Aussage eines
Weitere Kostenlose Bücher