Der gestohlene Traum
kauten, wandten sie ihren Blick nicht von der bewegungslosen Gestalt in der Grünanlage.
* * *
Major Larzew hatte am vierten Kiosk hinter der Metrostation eine Schachtel Davidoff-Zigaretten gekauft. Das war das Zeichen dafür, dass er dringend eine Kontaktaufnahme wünschte. Dann setzte er sich auf eine Bank und beobachtete den Kiosk.
Er hatte allerdings keineswegs vor, mit seinen Erpressern in Kontakt zu treten. Der Mord an Morozow hatte ihn aus der Fassung gebracht. Anastasija hatte alle ihre Forderungen erfüllt, warum hatten sie ihr Versprechen gebrochen? Ganz offensichtlich durfte man ihnen nicht trauen, womöglich hatten sie auch nie vorgehabt, Nadja wieder freizulassen, sobald die Gefahr vorüber war. Vielleicht war seine Tochter gar nicht mehr am Leben. Er durfte nicht mehr warten, er musste sein Kind finden und selbst retten. Keinerlei Verhandlungen, keinerlei Abmachungen mehr, denn nun war klar, dass man sich nicht auf sie verlassen konnte. Er musste den abfangen, der das Zeichen entgegennehmen würde, und ihn dann an der Gurgel packen. Über ihn würde er den Weg bis zum Boss finden, und dem würde er sein Kind dann schon entreißen, und wenn er ihn umbringen musste.
Larzew beobachtete aufmerksam den Kiosk, aber bis jetzt geschah dort nichts von Bedeutung. Der Verkäufer verließ seinen Standort nicht, auch an den Nachbarkiosken blieben die Verkäufer alle da, wo sie waren. Larzews Hoffnung war, dass das Zeichen einer Person galt, die sich ständig in der Einkaufszone aufhielt, einem der Verkäufer, der nun seinen Kiosk verlassen musste, um anzurufen und die Nachricht weiterzugeben. Wenn es sich bei dieser Person allerdings um einen Kunden handelte, dem der Verkäufer mitteilen musste, dass Larzew eine Schachtel Davidoff-Zigaretten gekauft hatte, verlor das ganze Unterfangen seinen Sinn. Er konnte ja nicht allen Leuten folgen, die etwas an dem Kiosk kauften. Aber es bestand immerhin eine Hoffnung. . . Er dachte an Nadja. Wie es ihr wohl ging? Ob sie ihr zu essen gaben? Die Kidnapper besaßen jede nur denkbare Information über das Mädchen. Sie kannten alle ihre Wege, wussten, an welchen Krankheiten sie litt, welche Noten sie in der Schule hatte, mit wem sie befreundet war. Sie hatten Nadja zwar ständig beobachtet, aber an die Informationen, die sie besaßen, konnte man durch eine gewöhnliche Außenobservation nicht herankommen. Es war, als würden sie auch von Nadjas Lehrern informiert werden, von ihren Ärzten aus der Poliklinik, von den Eltern ihrer Freundinnen. Wobei Larzew klar war, dass so etwas nicht sein konnte. Aber woher wussten sie all das, was sie wussten?
Er spannte sich plötzlich an. Diese Frau dort. Etwas über vierzig, kräftig, ein wenig füllig, einfaches Gesicht, einfache, etwas nachlässige Kleidung, glattes, helles, schon etwas angegrautes Haar, das am Hinterkopf von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Diese Frau hatte Larzew in den vergangenen anderthalb Jahren auf jedem Elternabend in der Schule gesehen.
Als Larzews Frau gestorben war, hatte er seine Tochter in der nächstgelegenen Schule angemeldet, damit sie auf dem Weg nicht so viele Straßen überqueren musste. Früher hatte Natascha sie immer zur Schule gebracht und wieder abgeholt, deshalb hatten sie sich den Luxus erlauben können, ihr Kind auf eine französische Schule zu schicken. Jetzt ging Nadja schon seit anderthalb Jahren auf eine ganz gewöhnliche Schule, die nur zehn Gehminuten von zu Hause entfernt war.
Larzew ging regelmäßig zu den Elternabenden, aber er freundete sich mit niemandem an, außer mit den Eltern von Nadjas Freundinnen. Er hatte nie einen Sinn darin gesehen, sich die Gesichter der anderen Eltern zu merken, da zu den Abenden bei weitem nicht alle kamen, außerdem waren es mal die Mütter, mal die Väter, mal die Großmütter. Die Elternabende fanden alle drei Monate statt, und jedes Mal sah Wolodja neue Gesichter. Nur diese eine Frau . . . Sie war immer da. Und sie schrieb sich immer etwas auf. Das unterschied sie deutlich von den anderen, die immer vor Langeweile zu sterben schienen, weil sie über ihre Kinder sowieso alles wussten. Sie gaben flüsternde Kommentare über die Ausführungen der Klassenlehrerin ab, manche Frauen strickten, das Wollknäuel unter der Schulbank versteckt, die Väter hatten in der Regel eine Zeitung oder einen Krimi auf den Knien. Nur diese Frau hörte immer aufmerksam zu. Die anderen saßen ihre Zeit ab, aber sie arbeitete.
Je länger er an diese Frau dachte,
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