Der gestohlene Traum
desto mehr auffällige Einzelheiten fielen ihm ein.
Eines Tages kam er zu spät zum Elternabend und versuchte nicht, sich in die hinterste Schulbank zu drängen, in der er gewöhnlich saß, sondern setzte sich in die erste Bankreihe neben diese Frau. Sie schrieb etwas, wie immer, aber nach Larzews Erscheinen packte sie ihren Block sofort weg. Er hatte damals innerlich gelächelt, weil er annahm, dass sie sich genauso langweilte wie alle anderen und deshalb einen Brief oder vielleicht Gedichte schrieb.
Und Larzew erinnerte sich jetzt noch an etwas anderes.
Die Klassenlehrerin berichtet über die Ergebnisse der letzten Kontrollarbeit in Russisch.
»Möchten Sie einmal sehen, wie gut Ihre Kinder schon schreiben?«, fragt sie und fängt an, die Hefte auszuteilen.
Die Frau beginnt zu hüsteln, mit einem Taschentuch vor dem Mund, und verlässt das Klassenzimmer.
Am Ende des Elternabends strömen alle nach vorn zur Klassenlehrerin, um das Frühstücksgeld bei ihr abzugeben. Alle bis auf diese Frau, die sofort in Richtung Tür geht. . .
Larzew verlässt das Schulgebäude und sieht diese Frau in einer Nachbarstraße in einen Wagen steigen, in einen luxuriösen silbergrauen Wolga mit Halogenscheinwerfern, Michelinreifen, teuren Lammfellbezügen. Nicht schlecht, hatte Larzew damals gedacht, eine so unscheinbare Frau, die so einen Wagen fährt. Er hatte näher hingesehen. Auf dem Rücksitz des Wagens lagen Gummistiefel, ein Rucksack und ein Jagddress mit Patronentasche . . .
Jetzt schalt Larzew sich dafür, dass er dieser Frau niemals Beachtung geschenkt hatte. Natürlich waren diese verdammten Elternabende die Quelle fast aller Informationen über Nadja. Nadja, der einmal in der zweiten Schulstunde schlecht geworden war, wurde als Beispiel aufgeführt, als die Klassenlehrerin die Eltern daran erinnerte, dass die Kinder ein gutes Frühstück vor der Schule brauchten. Über Nadja wurde gesprochen, als man die Eltern darauf zu achten bat, dass die Kinder keine Spielsachen in den Unterricht mitnahmen, weil es sich oft um sehr teure Dinge handelte, die sich bei weitem nicht alle leisten konnten, was häufig zu Konflikten zwischen den Kindern führte. Einmal war es fast zu einer Keilerei zwischen Nadja und Rita Birjukowa gekommen, weil diese eine Barbiepuppe in den Unterricht mitgebracht und sie Nadja zum Spielen gegeben hatte. Und als Rita die Puppe wiederhaben wollte, konnte Nadja sich nicht mehr von dem märchenhaften Spielzeug trennen. Ach, hätte er das alles nur früher bedacht!
Er sprang von der Bank auf und lief schnell zur Metro. Er fuhr zwei Stationen, stieg um und nahm die Linie, die zur Universität fuhr. Dort befand sich das Büro des Moskauer Jagd- und Angelvereins.
Als man ihm auf seine Bitte hin die etwa dreißig mit Adressen und Fotos versehenen Karten der weiblichen Mitglieder in der Sparte Jagdsport aushändigte, erkannte er auf einer von ihnen sofort das Gesicht der bewussten Frau. In einem einzigen Augenblick prägte er sich ihren Namen und ihre Adresse ein, schob die Karten wieder zu einem Stapel zusammen und gab sie zurück, ohne sich eine Notiz gemacht zu haben.
»Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben?«, fragte die Angestellte, während sie die Karten wieder in den Safe schloss.
»Ja, ich habe es gefunden, danke.«
Natalja Jewgenjewna Dachno, Lenin-Prospekt 19, Wohnung 84. Das also war sie.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
»Platz, Cäsar!«, hörte Larzew eine herrische Frauenstimme hinter der Wohnungstür sagen. Es ertönten Schritte, die Tür öffnete sich. Vor Larzew stand die gesuchte Frau.
»Guten Tag, erkennen Sie mich?«, fragte er. »Wir sind uns auf den Elternabenden in der Schule Nr. 64 begegnet. Erinnern Sie sich? Ich bin der Vater von Nadja Larzewa.«
Die Frau gab einen leisen Schrei des Erstaunens von sich und stützte sich gegen den Türstock.
»Sie meinen, ihr Stiefvater . . .«, erwiderte sie.
»Nein, ihr richtiger Vater. Wie kommen Sie darauf, dass ich ihr Stiefvater bin?«
»Aber wieso denn?« Ihre Augenlider begannen nervös zu flattern. »Ich dachte, Nadjas Vater . . .«
»Was dachten Sie?«, fragte Larzew aggressiv, während er den Flur betrat und die Tür hinter sich schloss.
Die Frau brach in Tränen aus.
»Verzeihen Sie mir, in Gottes Namen, verzeihen Sie mir, ich habe gewusst, dass das alles kein gutes Ende nehmen wird. So viel Geld . . . ich habe es gefühlt.«
Ihr zusammenhangloses Murmeln wurde ständig von Schluchzen unterbrochen, aber schließlich gelang es
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