Der gestohlene Traum
landete auch er in Tamaras Bett. Gradow und sein Freund stachen abwechselnd mit einem Küchenmesser auf ihn ein. Dann saßen sie in der Küche und warteten darauf, dass Tamara wieder zu sich kam. Nikifortschuk rutschte auf seinem Stuhl herum, als hätte er Nadeln im Hintern, und wollte so schnell wie möglich verschwinden, aber Sergej erklärte ihm fachmännisch, sie müssten unbedingt hier bleiben und warten, bis Tamara die Leiche entdeckt hatte, um sie davon zu überzeugen, dass sie es war, die im volltrunkenen Zustand zum Messer gegriffen hatte. Sonst könne die Sache schief gehen.
»Wir müssen die Kontrolle über die Situation behalten«, sagte Gradow mit gewichtiger Miene, während er sich Kartoffeln auf den Teller lud und noch eine Scheibe Brot abschnitt. Der soeben begangene Mord hatte seinen Appetit nicht geschmälert. Tamaras dreijährige Tochter Vika, die leise unter dem Tisch herumkroch und von irgendwelchen Kinderangelegenheiten plapperte, beachtete er gar nicht.
Sie mussten lange warten. Doch endlich rührte sich etwas im Zimmer nebenan, die zuerst undeutlichen Laute gingen in gellendes Geschrei über. In der Küchentür erschien Tamara, mit Blut an den Händen und grün im Gesicht. Das Blut tropfte von ihren Händen, sie starrte fassungslos auf ihre Finger, stürzte plötzlich zur Wand und wischte sie an der weiß gestrichenen Fläche ab. Es war ein so Grauen erregender Anblick, dass Arkadij sich fast erbrochen hätte. Er wollte sein Gesicht vor dem Freund nicht verlieren, und um seine Coolness zu demonstrieren, griff er nach einem Stück grüner Schneiderkreide, die auf dem Küchenbuffet lag, und zeichnete über die blutigen Streifen an der Wand einen Violinschlüssel. Er hielt seine Idee für sehr ausgefallen und originell und begann zu lachen. Er konnte stolz auf sich sein.
Alles Weitere verlief wie geplant. »Du Schlampe, was hast du angerichtet, du hast ihn umgebracht!«, schrien sie und stürzten hinaus ins Treppenhaus, um die Nachbarn auf das Geschehene aufmerksam zu machen und, wie Gradow sich ausdrückte, eine öffentliche Meinung herzustellen. Kurz darauf kam die Miliz, die beiden machten eine Zeugenaussage, und erst da besann sich Arkadij.
»Sie haben unsere Adressen und wissen jetzt, wo wir studieren. Wenn sie nun eine Meldung ans Institut schicken, dass wir unsere Zeit mit einer Trinkerin und Mörderin verbringen? Wir werden sofort fliegen.«
Daran hatte Gradow nicht gedacht. Aber er erschrak auch nicht besonders. Er hatte schließlich einen Vater, der ihm in jeder Lebenslage half.
Seinem Vater erzählte er dasselbe wie der Miliz. Aber Alexander Alexejewitsch kannte seinen Sohn zu gut, um ihm diese Mär zu glauben.
»Habt ihr ihn umgebracht?«, fragte er ohne Umschweife.
»Ja. Wie bist du darauf gekommen?«
Sergej sah seinem Vater provokativ in die Augen. Er hatte keinerlei Gewissen mehr, und da er bisher immer straffrei ausgegangen war, empfand er auch keine Angst mehr vor seinen Eltern.
Der Vater machte seinem Sohn mit unverblümten, eindringlichen und durchaus deftigen Worten klar, dass er eine große Dummheit begangen hatte. Aber er versprach trotzdem, ihm zu helfen. Und er hielt Wort.
Nach Abschluss des Studiums trennten sich die Wege von Sergej Gradow und Arkadij Nikifortschuk. Alexander Alexejewitsch, der inzwischen weiter die Parteileiter hinaufgeklettert war, besorgte seinem Sohn einen Posten im Moskauer Stadtkomitee der KPdSU. Aus einer Versetzung ins Ausland wurde nichts, da Sergej zu faul war, um seltene Fremdsprachen zu lernen, und mit seinem mittelmäßigen Englisch und schwachen Französisch kam er nicht weit. Aber Sergej war durchaus zufrieden mit dem, was er hatte, und machte sich mit Ausdauer daran, seine Parteikarriere aufzubauen. Zu Beginn der Perestroika knüpfte er viele Verbindungen und fand eine einfache Methode, an Valuta zu kommen. Er machte in Paris ein Häufchen junger, mittelloser Literaten und Übersetzer aus russischen Emigrantenkreisen ausfindig und lieferte ihnen Stoff für nervenzerfetzende Thriller.
Nach dem Putsch im Jahr 1991, als die einzige existierende Partei endgültig untergegangen war und an ihrer Stelle zahllose andere wie Pilze aus dem Boden schossen, ging Sergej Alexandrowitsch, gut ausgestattet mit konvertierbarer Währung, voller Enthusiasmus daran, sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Und da tauchte nach vielen Jahren plötzlich Nikifortschuk wieder auf. . .
Sergej hatte in den achtzehn Jahren, die inzwischen vergangen waren,
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