Der gestohlene Traum
sie die nächste Spritze überlebt?«
»Natürlich. Ich sage Ihnen ja, es hängt von ihrer Gesundheit ab, davon, wie stark ihr Herz ist. . .«
»Wir machen Folgendes«, sagte Arsenn. »Morgen früh untersuchen Sie das Mädchen wieder und teilen mir mit, ob Sie Ihr die nächste Injektion verabreichen können. Wenn ja, dann ist es gut. Wenn nein, werde ich entscheiden, ob wir das Mädchen aufwachen lassen oder trotzdem spritzen. Morgen früh werde ich genügend Informationen haben, um so eine Entscheidung treffen zu können.«
»Aber Sie verstehen doch, dass die nächste Spritze . . .« Der Arzt verstummte und schluckte krampfhaft.
Arsenn hob leicht den Kopf und fixierte den Arzt mit seinen kleinen, sehr hellen Augen. Sein Schweigen war sehr viel beredter und drohender als alle scharfen Worte, die er hätte sagen können. Endlich erlosch das böse Funkeln in seinen Augen, das Gesicht des alten Mannes nahm wieder einen ganz gewöhnlichen, unauffälligen Ausdruck an.
»Wie geht es dem Kaiser?«, fragte er beinah vergnügt, während er den Fahrplan für Vorstadtzüge, den er aus seiner Tasche geholt hatte, zu studieren begann.
»Sie meinen Cäsar? Dem geht es prächtig. Er frisst für zwei und macht Unsinn für drei. Aber dafür ist er boshaft wie zehn seiner Art.« Der Arzt war sichtlich erleichtert. Er wollte es Arsenn nicht nur recht machen, er hatte tödliche Angst vor ihm.
»Nach Ihrem Sohn frage ich nicht, von dem weiß ich sowieso alles. Ist Ihre Frau wohlauf?«
»Danke, bei uns ist alles in Ordnung.«
»Irgendwie ist es kalt hier bei Ihnen«, sagte Arsenn und fröstelte erneut. »Wird das Mädchen sich nicht erkälten?«
»Es ist warm zugedeckt. Außerdem muss der Raum kühl sein. Für Menschen, die sich im Narkoseschlaf befinden, ist ein warmer Raum schädlich«, erklärte der Arzt fachmännisch.
»Gut, mein Freund, es wird Zeit für mich.«
Arsenn hatte endlich einen passenden Zug gefunden und schickte sich zum Gehen an.
»Morgen früh um acht untersuchen Sie das Mädchen, um Viertel nach acht erwarte ich Ihren Anruf. Wenn ich entscheide, dass sie keine Injektion mehr bekommt, sagen Sie meinen Leuten Bescheid. Sie sollen sie in die Stadt bringen und in der Grünanlage absetzen. Sie haben entsprechende Anweisungen.«
»Und wenn . . .?«, fragte der Arzt schüchtern.
»Dann werden Sie ihr die Spritze geben. Auf Wiedersehen. Und zerbrechen Sie sich nicht unnütz den Kopf.«
Arsenn verließ das Zimmer, ging die Außentreppe hinunter und trat auf den knirschenden Schnee. Hier draußen, hinter der Stadt, war richtiger Winter, der Schnee schmolz nicht unter den Füßen und Autorädern weg, sondern blieb wie ein glatter weißer Teppich liegen. Arsenn wusste, dass es bei mittlerer Gehgeschwindigkeit von hier, dem einstigen Winterlager für Junge Pioniere, bis zum Bahnhof genau dreiundzwanzig Minuten waren. Er hatte genau dreiundzwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges das Haus verlassen, um keine Sekunde länger als nötig auf dem Bahnsteig herumzustehen und aufzufallen.
Das Gespräch mit dem Arzt hatte in ihm, wie immer, ein Gefühl leichten Widerwillens hinterlassen. Er war zweifellos ergeben und sehr bemüht, aber feige und unterwürfig. Seine Frau gefiel Arsenn sehr viel besser. Aber ohne ihren Mann konnte er auch nicht auskommen, man musste ihn an der kurzen Leine halten und durfte ihn nicht zu sehr verschrecken. Immerhin war er bereit, einiges zu tun, wie jetzt mit dem Mädchen. Arsenn war völlig klar, dass es gefährlich war, Nadja wieder freizulassen, sie verstand bereits alles und konnte der Miliz helfen, die Spur zu ihm zu finden. Und trotzdem musste man sie freilassen, um ein Druckmittel gegen Larzew in der Hand zu behalten und dieses Druckmittel in Zukunft auch gegen die Kamenskaja einzusetzen. Es war eine ideale Lösung, das Mädchen in Tiefschlaf zu versetzen. Es sah und hörte nichts, deshalb konnte man es ohne jedes Risiko wieder freilassen. Und dem besorgten Vater würde klar werden, dass man, sollte er nicht mehr mitspielen, das nächste Mal mit seiner Tochter ganz anders verfahren würde. Die praktische Erfahrung hatte allerdings gezeigt, dass es nie zu einem nächsten Mal kam, nach einer Kindesentführung wurden widerspenstige Eltern völlig zahm, der durchlebte Schrecken reichte ihnen für den Rest ihres Lebens. Nadjas Entführung war bereits die fünfte in Arsenns Laufbahn, und für die noch kommenden Fälle musste er sich den Arzt warm halten.
Arsenn betrat den Bahnsteig in genau
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