Der gestohlene Traum
wissen, wer dieser Jean-Paul Brisac ist. Wirst du mir helfen, es herauszufinden?«
»Ich werde es versuchen. Ist es dringend?«
»Dringender geht es nicht.«
»Ich versuche es«, wiederholte Grinewitsch nachdrücklich. »Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, rufe ich dich an. Bleibst du zur Probe?«
»Danke, Gena, aber ich habe keine Zeit. Ich muss wieder los.«
* * *
Nastja Kamenskaja las nicht nur Brisac, sondern auch andere ausländische Autoren, die sich in ihren Büchern mit dem heutigen Russland beschäftigten. Es interessierte sie, wie die Schriftsteller in anderen Ländern die Russen sahen und darstellten. Und jedes Buch zeigte ihr, dass sie alle weit entfernt waren von der Wahrheit. Sogar die emigrierten russischen Schriftsteller, die den größten Teil ihres Lebens in Russland verbracht hatten, kannten die aktuelle Lebenswirklichkeit in ihrer Heimat nicht mehr.
Aber bei Brisac war alles anders, seine Beschreibungen des russischen Alltags waren erstaunlich genau. Er schrieb, als hätte er sein ganzes Leben in Russland verbracht und als wäre er auch jetzt noch hier. Nastja wunderte sich, wie genau er die Preise für einzelne Waren und Dienstleistungen kannte, sogar dann, wenn die Handlungen seiner Bücher in den Zeitraum der letzten zwei, drei Jahre fielen. Obwohl das noch nicht viel besagte. Die aktuellen Preise wurden wöchentlich in der Presse veröffentlicht, und wer wollte, konnte sich darüber ohne weiteres informieren. Aber in Brisacs Büchern fanden sich auch andere Details, die in keiner Zeitung nachzulesen waren, die man nur aus eigener Erfahrung kennen konnte und nur dann, wenn man lange Zeit eng mit Untersuchungsführern, Kripobeamten, Staatsanwälten und Richtern zusammengearbeitet hatte, wenn man täglich in der Warteschlange vor Geschäften stand und mit Verkäufern kommunizierte und wenn man zudem eine ordentliche Haftstrafe in einem Arbeitslager abgesessen hatte, wovon eines von Brisacs letzten Büchern mit dem Titel »Traurige Wiederkehr« ein deutliches Zeugnis ablegte. In Nastja wuchs die Gewissheit, dass Jean-Paul Brisac in Wirklichkeit ein russischer Emigrant war. Die Tatsache, dass seine Bücher in einwandfreiem Französisch geschrieben waren, besagte noch nicht viel, denn das konnte die Arbeit von Übersetzern und Lektoren sein. Er versteckte sich vor den Journalisten und Fotografen, weil er seine wahre Identität nicht preisgeben und die Legende vom französischen Bestsellerautor aufrechterhalten wollte. Oder er hatte Gründe, sich vor der Gerichtsbarkeit zu verbergen.
»Viktor Alexejewitsch, wir müssen herausfinden, ob dieser Brisac schon einmal in Russland war. Ich muss wissen, wie er auf diesen salatgrünen Violinschlüssel kommt, der auf dem Cover abgebildet ist. Da wir beide nicht an Hellseherei und übersinnliche Kräfte glauben, bleibt uns nur eine Schlussfolgerung: Vika Jeremina und Jean-Paul Brisac waren beide Zeugen eines Ereignisses, bei dem dieses Bild irgendeine Rolle spielte. Danach begann Vika, dieses Bild zu träumen, es wurde zum Albtraum, der sie verfolgte, während der weniger sensible Brisac es produktiv für seine literarischen Zwecke genutzt hat.«
Gordejew kaute nachdenklich am Bügel seiner Brille, während er Nastja zuhörte. Er sah inzwischen noch schlechter aus als vor einigen Tagen, aber in seinem Blick stand keine Frage mehr. Er weiß es bereits, dachte Nastja. Ja, so war es. Vielleicht hatte Oberst Gordejew noch keine letzte Sicherheit, aber im Grunde wusste er inzwischen, wer von seinen Mitarbeitern der Verräter war. Er wusste nur nicht, was er jetzt tun sollte, wie er die Pflicht mit seinen menschlichen Gefühlen vereinbaren konnte.
»Und du meinst, eine andere Erklärung kann es nicht geben?«
»Doch, wahrscheinlich schon, aber bis jetzt fällt mir nichts anderes ein.«
»Gut, ich werde mich mit dem Büro für Visa- und Aufenthaltsangelegenheiten in Verbindung setzen. Aber was machen wir, wenn Jean-Paul Brisac ein Pseudonym ist und in seinem Pass ein ganz anderer Name steht? Hast du an diese Möglichkeit schon gedacht?«
»Ich versuche, über einen Bekannten herauszufinden, ob man Brisac in Journalistenkreisen kennt. Vielleicht gibt es jemanden, dem seine wahre Identität bekannt ist.«
»Was ist das für ein Bekannter?«, fragte Gordejew misstrauisch.
»Gena Grinewitsch, er arbeitet als Regieassistent am Theater.«
»Kennst du ihn schon lange?«, wollte der Oberst wissen.
»Seit meiner Kindheit. Was ist los mit Ihnen, Viktor
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