Der gestohlene Traum
Nastja das Büro betreten hatte.
»Ach, über nichts«, lächelte Nastja. »Ich habe den neuen BMW dort draußen angesehen und mich gefragt, wer mit so einer Luxuskarosse vor unserem Armenhaus vorfährt.«
»Weißt du das etwa nicht?«, wunderte sich Jura. »Das ist unser Lesnikow. Er hat sich vor kurzem ein neues Auto gekauft.«
»Was du nicht sagst!« Jetzt war es an Nastja, sich zu wundern. »Wie schafft er das mit unserem Gehalt?«
Korotkow zuckte mit den Schultern.
»Du denkst zu viel über das Geld der andern nach«, sagte er missbilligend. »Lesnikow hat wohlhabende Eltern, und seine Frau ist Modedesignerin, die bei keinem Geringeren als Saitzew arbeitet und entsprechend verdient. Du bist hier unser freier Vogel und verfügst nur über dein eigenes Budget, während die andern eine Familie haben und noch andere Geldquellen.«
Die Tür öffnete sich erneut, und Igor Lesnikow erschien auf der Schwelle.
»Ich suche dich überall, Korotkow, und du steckst hier, bei Nastja«, sagte er vorwurfsvoll.
»Oh, wenn man von der Sonne spricht. . .«, lachte Jura. »Wir unterhalten uns gerade über dein neues Auto.«
Igor schien die Bemerkung überhört zu haben.
»Ich sehe dich in letzter Zeit so selten«, wandte er sich an Nastja. »Früher hast du tagelang in deinem Büro gesessen, und jetzt bist du immer unterwegs. Ist es wegen der Jeremina?«
Nastja nickte wortlos, in der Hoffnung, dass ihr weitere Fragen erspart bleiben würden.
»Und wie steht es? Kommst du voran?«
»Nein, so gut wie gar nicht. Eine ziemlich aussichtslose Sache. Wir warten noch bis zum dritten Januar, dann sind zwei Monate verstrichen, Olschanskij wird den Fall zu den Akten legen, und dann wird mein Leiden ein Ende nehmen. Ich habe keine Lust mehr, mir die Hacken abzulaufen, ich ziehe Schreibtischarbeit vor.«
»Das ist bekannt«, lachte Lesnikow. »Deine Faulheit ist legendär. Ich glaube, du führst uns alle an der Nase herum, Anastasija.«
»Wie meinst du das?« Nastja sah Lesnikow mit großen Augen an und fühlte einen kalten Schrecken in der Magengrube.
»Du liest während der Dienstzeit französische Romane, anstatt zu arbeiten. Willst du das etwa abstreiten? Immer, wenn ich in den letzten Tagen bei dir vorbeigeschaut habe, hattest du diese hübschen bunten Bücher mit den lateinischen Lettern vor dir auf dem Schreibtisch liegen. Erzähl mir nicht, dass du die brauchst, um den Fall Jeremina aufzuklären. Ich glaube dir sowieso nicht. Und du, Korotkow?«
»Was, ich?«, fragte Korotkow verwirrt.
»Glaubst du, dass die Lektüre französischer Romane bei der Ermittlungsarbeit hilft?«
»Keine Ahnung. Nastja hilft es vielleicht. Niemand auf der Welt weiß, wie ihr Kopf funktioniert.«
Die Tür öffnete sich erneut, und Wolodja Larzew kam herein.
»Jetzt habe ich euch erwischt! Der Kripobeamte verdient sein Geld mit den Beinen, und ihr habt euch hier bei Nastja verkrochen und palavert.«
»Und du selbst?«, rechtfertigte sich Lesnikow. »Du bist doch auch zum Palavern gekommen.«
»Nein, ich komme in dienstlichen Angelegenheiten. Nastja, welche Schuhgröße hast du?«
»Achtunddreißig, warum?«, fragte sie überrascht.
»Dann passt es ja!«, rief Larzew erfreut aus. »Hast du Skistiefel?«
»Nein, so etwas habe ich in meinem ganzen Leben nicht besessen. Man muss über viel Einbildungskraft verfügen, um sich jemanden wie mich in Skistiefeln vorzustellen.«
»Schade! Meine Nadja bekommt nämlich Ski-Unterricht in der Schule, und sie hat keine Skistiefel. Die vom letzten Jahr passen nicht mehr, und neue sind zu teuer. Zumal sie ja wächst, und nächstes Jahr sind die Schuhe schon wieder zu klein. Ich hatte gehofft, du könntest uns aushelfen«, seufzte Larzew. »Schade, Pech gehabt. Übrigens, Nastja, wie läuft deine Zusammenarbeit mit Konstantin?«
»Du meinst Olschanskij? Es läuft normal.«
»Übt er keinen Druck auf dich aus?«
»Nein, das habe ich noch nicht bemerkt.«
»Weißt du, er ist manchmal etwas grob . . .«
»Das allerdings habe ich bemerkt. Hat er sich etwa über mich beschwert?«
»Aber nein, ganz im Gegenteil, er ist sehr zufrieden mit deiner Arbeit. Wie hast du es geschafft, ihn so für dich einzunehmen?«
»Mit meiner überirdischen Schönheit«, scherzte Nastja abwehrend. Langsam wurde sie nervös.
Jeder von ihnen versuchte irgendwie, das Gespräch auf den Fall Jeremina zu bringen. Was stand hinter ihren Fragen? Gewöhnliches kollegiales Interesse oder etwas anderes? Und wenn etwas anderes
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