Der gestohlene Traum
zu lernen, und außerdem musste sie noch eine ganze Weile mit ihm Zusammenarbeiten. Sie beschloss, mit etwas anderem zu beginnen.
»Was hat die Jeremina gemacht? Womit hat sie ihr Geld verdient?«
»Sie hatte eine Hauswartsstelle«, erwiderte Oleg, nachdem er einen Blick in seine Notizen geworfen hatte.
»Hatte sie Vorstrafen, bevor sie den Mord beging?«
»Ja, sie hatte eine Vorstrafe wegen Diebstahls.«
»Und was hat sie vorher gemacht?«
Mestscherinow blätterte in seinem Notizblock.
»Das habe ich nicht notiert. Ich glaube, das steht auch gar nicht in ihrer Akte. Ist das wichtig?«
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Aber Sie sind nicht sehr gewissenhaft, Oleg. Das steht nämlich sehr wohl in der Akte. Seien Sie mir nicht böse, aber ich muss Ihnen sagen, dass Sie noch nicht in der Lage sind, selbständig zu arbeiten. Anstatt zu lernen und Fragen zu stellen, versuchen Sie, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen und die Dinge selbst zu beurteilen. Was wichtig und was unwichtig ist, entscheide ich, Sie müssen mir nur die Fakten liefern. Ich werde diese Fakten mit Ihnen gemeinsam auswerten und Ihnen anschaulich erklären, wie diese zu interpretieren und einzuschätzen sind. Haben wir uns verstanden?«
»Ja«, sagte Oleg mürrisch und sammelte seine Papiere auf dem Schreibtisch ein.
»Was ist mit dem Notizbuch, das Sie bei Kosarjs Witwe beschlagnahmt haben?«
Oleg erstarrte, seine Wange zuckte, die kaum merkliche Schramme über seiner Augenbraue färbte sich flammend rot. Er schwieg.
»Ich warte«, sagte Nastja. »Geben Sie mir das Notizbuch. Ich habe nicht vor, Ihnen eine Szene zu machen, weil Sie auf eigene Faust gehandelt haben. Damit haben Sie zwar ein Dienstvergehen begangen, aber Sie sind Praktikant und lernen noch, deshalb werden wir diesmal auf Strafen und Verweise verzichten. Merken Sie sich einfach nur, dass Sie so etwas nicht tun dürfen.«
Mestscherinow sah aus dem Fenster und schwieg beharrlich.
»Was ist los, Oleg?«
Nastja schwante nichts Gutes, aber sie verdrängte ihre Befürchtungen.
»Anastasija Pawlowna, es tut mir sehr Leid, aber . . . Ich habe das Notizbuch verloren«, sagte Oleg schließlich gepresst.
»Wie bitte?« Nastja fühlte Entsetzen in sich aufsteigen. »Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe das Notizbuch ins Büro mitgebracht, und Sie waren nicht da. Als Sie zurückkamen, wollte ich es Ihnen gleich geben, aber es war verschwunden. Darum habe ich auch nichts gesagt. Ich habe Angst gehabt, dass Sie mit mir schimpfen werden.«
»Ich schimpfe so oder so mit Ihnen. Haben Sie etwa geglaubt, niemand würde Sie nach diesem Notizbuch fragen, die Sache würde irgendwie unter den Tisch fallen?«
Oleg nickte.
»Dann merken Sie sich folgende Regel. Sie stammt nicht von mir, sondern aus der Physik. Alles, was verderben kann, verdirbt zwangsläufig. Und alles, was nicht verderben kann, verdirbt ebenfalls. In Bezug auf unsere Arbeit bedeutet das, dass nie etwas unter den Tisch fällt. Wenn man einen Fehler macht, muss man sofort versuchen, ihn wieder zu korrigieren. Sofort und ohne Verzögerung. Denn je länger man wartet, desto unwahrscheinlicher wird es, dass man noch etwas retten kann. Haben Sie das verstanden?«
Oleg nickte erneut.
»Wann haben Sie das Notizbuch zum letzten Mal gesehen?«
»Zu Hause bei Kosarj.«
»Wo haben Sie es aufbewahrt?«
»In meiner Jackentasche. Und als Sie ins Büro kamen, war es nicht mehr da.«
»Sind Sie auf dem Weg zur Petrowka noch irgendwo gewesen?«
»Nein.«
»Haben Sie Ihre Jacke irgendwo ausgezogen?«
»Nur hier, im Büro.«
»Hat jemand mein Büro betreten, solange ich nicht da war?«
»Ja, natürlich. Korotkow war hier, Larzew und dann dieser . . . so ein gut aussehender Typ. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen.«
»Igor Lesnikow?«
»Ja, genau. Und Kolja war auch hier.«
»Sie meinen Selujanow?«
»Ja. Und noch einige andere Leute, die nach Ihnen gefragt haben.«
»Waren sie aus unserer Abteilung?«
»Ich glaube, ja.«
»Was heißt, Sie glauben? Haben Sie diese Leute bei den Einsatzbesprechungen bei Gordejew gesehen?«
»Ich erinnere mich nicht. Ich habe ein schlechtes Personengedächtnis.«
»Dann müssen Sie es trainieren.« Nastja versuchte nicht mehr, ihren Ärger hinunterzuschlucken. »Haben Sie das Büro in dieser Zeit verlassen?«
»Ja, natürlich. Sie waren ja sehr lange weg.«
»Hören Sie auf, sich zu rechtfertigen, beantworten Sie nur meine Fragen, und zwar so genau wie möglich.
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