Der gewagte Antrag
vernichtet. Ich erinnere mich nicht, was mich bewogen hat, das nicht zu tun, denn immerhin war ich damals erst vierzehn Jahre alt. Möglicherweise war es der Gedanke, die Wahrheit dürfe nicht restlos unter den Teppich gekehrt werden. Ich habe das Schreiben im Couvert gegen ein leeres Blatt Papier ausgetauscht, und diesen Umschlag hat Charles dann ins Kaminfeuer geworfen. Er hat nie erfahren, was ich getan habe. Fredericks Zeilen sind noch immer in meinem Besitz. Ich werde sie dir zu lesen geben.”
Zutiefst erschüttert, setzte George sich wieder, nicht imstande, etwas zu äußern.
Guy bemerkte, dass der Vater innerlich zerbrochen war. Obgleich er das alles für Charles tat, empfand er keine Genugtuung, dass der Vater seelisch litt. “Nun begreifst du hoffentlich, wie gern Charles dich stets hatte”, fuhr er eindringlich fort. “Dir zuliebe hat er dich vor einem großen Schock bewahrt und dafür gesorgt, dass unser Name nicht durch den Schmutz gezogen wurde. Er hat auch den Erpresser zum Schweigen gebracht. Wie, kann ich dir nicht sagen. Tatkräftig hat er sich dann darum gekümmert, dass der von Frederick so gut wie abgewirtschaftete Besitz wieder ertragreich wurde. All das macht dir gewiss deutlich, wie unbegründet und ungerecht es war, ihm Frederick vorzuziehen. Und nun ist er vermutlich in dem Bewusstsein gestorben, dass du ihn Zeit seines Lebens nicht gemocht hast.”
“Ich glaube, was du mir erzählt hast”, murmelte der Earl niedergeschmettert. “Dennoch möchte ich Fredericks Brief lesen.” Er verbarg das Gesicht zwischen den Händen und fühlte sich unversehens um Jahre gealtert. Traurig dachte er daran, dass seine Wertschätzung für Frederick auf falschen Voraussetzungen beruht hatte, aber ebenso die für Charles empfundene Abneigung. Und nun hatte er beide Söhne verloren. Langsam hob er den Kopf und fragte leise: “Habe ich dich richtig verstanden, Guy, dass Charles nach Glen Ruadh gereist, dort jedoch nie angekommen ist? Und dass niemand etwas von ihm gehört hat, seit er London verließ?”
“Ja”, bestätigte Guy in gepresstem Ton. Er hatte immer geahnt, dass er dem Vater eines Tages alles enthüllen würde, doch nicht voraussehen können, unter welch tragischen Umständen es geschah. Und nun war ihm nicht mehr nach weiteren Worten zumute.
“Ich muss mit mir ins reine kommen”, flüsterte George bedrückt. “Es wird eine Weile dauern, bis ich alles verkraftet habe. Aber ich werde tun, was du von mir verlangt hast, und nach Charles suchen lassen. Hat er damals wirklich aus Rücksicht auf mich so gehandelt?”
“Ja”, wiederholte Guy fest. “Er wollte jeden Skandal vermeiden. Es hätte schreckliches Aufsehen erregt, wäre Frederick von jemand anderem gefunden worden. Charles ist der Mensch, als den ich ihn dir beschrieben habe. Du hast es nur nie gesehen, weil dein Sinnen und Trachten immer nur Frederick galt. Charles hatte sich damit abgefunden, auch wenn es ihn schmerzte.”
“Mir scheint, ich habe keinen von meinen drei Söhnen je richtig gekannt und seine Fähigkeiten zu würdigen gewusst”, erwiderte George bekümmert. “Für dein damaliges Alter hast du, als du Fredericks Brief aufhobst, viel Weitblick und Umsicht bewiesen. Bring mir das Schreiben und lass mich dann allein. Nun können wir nur hoffen, dass durch eine glückliche Fügung des Schicksals Charles noch am Leben ist. Für mich wäre es die größte Strafe, ihn nie wiedersehen und die verlorenen Jahre an ihm gutmachen zu können.”
Elinor hatte vorgegeben, in York Einkäufe erledigen zu müssen, war in die Stadt gefahren und hatte einen Anwalt aufgesucht. Nach der Rückkehr am Abend wies sie die Haushälterin an, Mr. Bancroft ein Gästezimmer herzurichten, und zog sich dann unverzüglich unter dem Vorwand in ihre Räume zurück, Kopfschmerzen zu haben. Sie wollte zum jetzigen Zeitpunkt mit niemandem sprechen, ließ dem Verwalter jedoch durch die Zofe ausrichten, sie wünsche ihre Berater und den Sekretär am nächsten Morgen um zehn Uhr in ihrem Arbeitszimmer zu sehen.
Vor Aufregung fand sie zunächst keinen Schlaf und grübelte darüber nach, wie die Herren reagieren würden, wenn sie die Neuigkeit erfahren hatten. Wie würde Chad sich verhalten? Entweder er küsste sie, oder er brachte sie um.
Nach einer Weile schlummerte sie ein und sah morgens, als sie die Lider aufschlug, die Sonne durch die Vorhänge scheinen. Sie stand auf, öffnete die Fenster und atmete tief die frische Frühlingsluft ein.
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