Der gewagte Antrag
jetzt fast ein halbes Jahr seit Charles' überstürzter Abreise vergangen, und niemand hatte in dieser Zeit ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Schon früher hatte Guy sich mit Freunden des Bruders in Verbindung gesetzt, doch auch ihnen war nichts über den Aufenthaltsort Seiner Lordschaft bekannt. Jeder war verwundert gewesen, dass man ihn nicht mehr an den von ihm besuchten Orten gesehen oder zumindest etwas von ihm gehört hatte.
Guy holte MacDougals ersten Brief, ging mit den beiden Schreiben zu seinem Vater in dessen Arbeitszimmer und legte sie auf das Bureau. Bestürzt schilderte er dem ihm mit verschlossener Miene lauschenden Vater, was der schottische Verwalter ihm mitgeteilt hatte, und fügte zum Schluss hinzu: “Ich möchte vorschlagen, nach Charles suchen zu lassen. Es ist indes besser, wenn du die Initiative ergreifst.”
George Shadwell, Earl of Clermont, senkte den Blick auf die vor ihm liegenden Briefe und erwiderte kalt: “Die Dinge haben eine Entwicklung genommen, auf die ich nie zu hoffen gewagt hätte. Umso besser, wenn dein Bruder auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist! Wenn die notwendigen Formalitäten erledigt sind, bist du mein Erbe.”
Guy hatte dem Vater immer Gehorsam bewiesen, doch nun ging das Temperament mit ihm durch. “Nein!”, widersprach er heftig. “So darfst du nicht reden, Vater! Du hast Charles stets Unrecht getan. Er ist ein guter, anständiger und ehrlicher Mensch, wie alle Welt weiß, abgesehen von dir. Was hast du eigentlich gegen ihn einzuwenden? Selbst Wellington …”
“Du langweilst mich”, unterbrach George scharf.
“Ich langweile dich?”, wiederholte Guy entgeistert. “Es wird höchste Zeit, dass du die Wahrheit über Charles erfährst, und vor allem über Frederick. Charles hat mir verboten, dir etwas zu erzählen, doch da wir befürchten müssen, dass er tot ist, fühle ich mich nicht mehr an mein Wort gebunden. Du musst endlich wissen, was für ein Mensch Frederick war und was Charles getan hat, um die Familienehre zu schützen und dir jeden Kummer zu ersparen.”
Erstaunt schaute George den jüngsten Sohn an, stand auf und forderte hart: “Drück dich deutlicher aus, oder es ergeht dir nicht anders als Charles!”
Guy war unfähig, sich länger zu beherrschen. “Enterbe mich, wenn du willst!”, erwiderte er zornig. “Ich sage dir trotzdem, dass Frederick nicht durch einen Unfall umgekommen ist, wie du und die Öffentlichkeit glauben. Er hat Selbstmord begangen, indem er sich einen Kugel in …”
Guy versagte die Stimme. Er schluckte, holte tief Luft und fuhr beklommen fort: “Frederick hatte nie etwas für Frauen übrig. Er interessierte sich nur für junge Männer und besuchte zu diesem Zweck gewisse Häuser, wo er seinesgleichen traf. Charles wusste es; ich hingegen hatte keine Ahnung, bis ich zufällig eines Tages eine Unterhaltung zwischen ihm und Frederick mitbekam, die kurz vor dessen Tod stattfand. Frederick war seit Jahren erpresst worden, und man hatte ihm gedroht, ihn bloßzustellen, sollte er die Zahlung der horrenden Summen einstellen. Er war nur imstande gewesen, sie aufzubringen, weil er heimlich viel Geld aus unseren Einkünften veruntreut hatte. Nun war der Besitz ausgeblutet, und Frederick wusste nicht mehr ein noch aus. Angesichts des drohenden Ruins und der gesellschaftlichen Ächtung erschoss er sich und hinterließ dir einen Brief, in dem er die Gründe für seinen Schritt erläuterte.”
“Diesen Brief habe ich nie bekommen”, warf George überrascht ein.
“Nein, denn Charles hatte ihn in Pinfold, wo er sich nach der in Spanien erlittenen Verwundung erholte, auf dem Tisch neben der Leiche unseres Bruders gefunden. Ihm war klar, dass du am Geständnis deines Lieblingssohnes zerbrechen würdest und unser Name unrettbar besudelt sein musste. Er rief mich, und da du an jenem Wochenende in Broadland weiltest, beschlossen wir, dir die wahren Gründe für Fredericks Selbstmord zu verheimlichen und seinen Tod als Unfall hinzustellen. Und das ist uns überzeugend gelungen.”
“Wie kann ich sicher sein, dass diese abscheuliche Geschichte tatsächlich der Wahrheit entspricht?”, fragte George.
Guy sah ihm in das fahl gewordene, eingefallen wirkende Gesicht und antwortete kühl: “Nun, Green weiß, dass Frederick Gelder in die eigene Tasche abgezweigt hat. Vielleicht ahnt er sogar den Grund. Doch noch habe ich dir nicht alles berichtet. Charles war der Annahme, ich hätte Fredericks Brief, den ich verbrennen sollte,
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