Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
aufzustellen, erklärte ich die Umstände und den Grund für meine Entscheidung, und das gab für ihn den Ausschlag. Dann besprachen wir das Wetter, und wie schon zu Rob sagte ich nun zu Scott, daß »die Bedingungen nicht ideal sind und wir einen Abstieg erwägen sollten«. Dann sagte ich, ich hätte mit Rob über das Wetter gesprochen, und dieser wolle warten, ob der Wind nachließ. Nach unserem Gespräch wußte ich, daß Scott mit Rob einer Meinung war. Wenn das Wetter aufklarte, würden wir zum Gipfel gehen.
Gegen siebzehn Uhr dreißig kroch Boukreev zu Lene Gammelgaard, Martin Adams und Klev Schoening ins Zelt. Fischer teilte sich eines mit Beidleman, Pittman, Fox und Madsen. Der Sturm ließ nicht nach, und alle hockten da und warteten, was die nächsten Stunden wohl bringen würden.
Im Basislager war geplant worden, daß die Gruppe am 9. Mai um Mitternacht von Lager IV in Richtung Gipfel losgehen sollte. Laut Martin Adams aber war man in Boukreevs Zelt der Meinung, daß der Aufstieg nicht zu diesem magischen Zeitpunkt stattfinden würde. »Der Wind war so stark, daß man nicht die geringste Lust hatte, draußen herumzuklettern. Im großen und ganzen hatten wir das Gefühl, daß die Chance vertan war.« Auch Lene Gammelgaard hatte ihre Befürchtungen. »In der Nacht am Südsattel wollte das heftige Heulen kein Ende nehmen. Ich hatte große Zweifel, und ich wußte, daß sich in unserem Zelt einige fragten: ›Werden wir starten oder nicht?‹ Denn ich glaube nicht, daß es klug ist, nach einem Unwetter loszugehen, weil dies kein gutes Zeichen ist.«
In einem anderen Zelt von Lager IV wurden ähnliche Überlegungen ausgetauscht. Lou Kasischke, dreiundfünfzig, Anwalt aus Bloomfield Hills, Michigan, und Teilnehmer an Rob Halls Expedition, teilte sich die Unterkunft mit drei anderen: Andy Harris, Beck Weathers und Doug Hansen. Alle bis auf den Bergführer Andy Harris waren der Meinung, daß ein Gipfelvorstoß am nächsten Tag keine gute Idee sei.
Kasischke erinnerte sich: »Im Hochlager tobte ein Sturm, und ich weiß noch, wie wir in unserem Zelt debattierten. Es stand drei zu eins, daß wir warten sollten. Da zu befürchten war, daß das Wetter keinen ganzen Tag halten würde, daß wir also keine vollen vierundzwanzig Stunden haben würden, hielten wir es für klüger, einen Tag zu warten. Ich meinte, wenn es in vierundzwanzig Stunden noch immer so stürmen würde, wäre der Abstieg problematisch.«
Zwei Zelte, zwei verschiedene Expeditionen, acht Bergsteiger. Sechs stimmten dagegen.
Boukreev wußte, daß die Entscheidung nicht bei ihm, sondern bei Fischer lag, und wenn dieser sich für den Aufstieg entschied, hieß es ausgeruht sein. Da er sich und die anderen aufwärmen wollte, kramten er und Martin Adams nach einem Gefäß, in dem sich auf dem Kocher Wasser schmelzen ließ. Es fand sich keines. »Wieder so eine Pleite«, sagte Adams »aber ich hatte mich schon abgefunden, daß alles schiefging, und war entschlossen, das Beste daraus zu machen und mich nicht zu sehr aus dem Konzept bringen zu lassen.«
Zum Glück brachten die Sherpas trotz des tobenden Sturms heißen Tee. Doch kann sich Adams nicht erinnern, daß es etwas zu essen gegeben hätte. »Lene hatte gute Sachen dabei, aber uns fehlte ein Kochtopf.«
Nach dem heißen Tee hielt ich es am vernünftigsten, die Wartezeit mit Schlafen zu verbringen. Ich verkroch mich in meinen Schlafsack und schlief auch sofort ein.
Während Boukreev schlief, versuchten Lene Gammelgaard und Martin Adams seinem Beispiel zu folgen, doch daraus wurde nichts. Klev Schoening drohte damit, das Zelt zu verlassen und draußen im Sturm zu nächtigen. »Als wir einzuschlafen versuchten, fing Klev, der wohl an Höhenkrankheit litt, zu schreien an«, erinnerte sich Adams. »Er verlangte, wir sollten zusammenrücken. Das war ein wenig merkwürdig, da Lene, Toli und ich uns in der einen Hälfte des Zeltes drängten, während Klev mit dem Gepäck die andere für sich hatte.« Lene und Martin schmunzelten und tauschten vielsagende Blicke, reagierten aber nicht weiter, da »Klev ein netter Kerl ist«, wie Adams sagte. »Wir faßten es nicht persönlich auf. Er meinte es nicht so, es war einfach die Höhe.« Schoening hatte eine unruhige, schlaflose Nacht. Boukreev schlief ganz fest. Als er gegen zweiundzwanzig Uhr aufwachte vermißte er etwas. Das Sturmgeheul war verstummt.
Die Zeltplane knatterte nicht mehr, es war völlig windstill. Die einzigen Geräusche stammten
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