Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
dessen Bedeutung besser zu verstehen. »Boukreev war um halb fünf in Lager IV eingetroffen, ehe der Sturm mit aller Gewalt losbrach. Er war vom Gipfel rasch abgestiegen, ohne auf die Kunden zu warten – für einen Bergführer eine äußerst fragwürdige Haltung.«
Boukreev sah in die Runde und fragte sich, ob die anderen die Worte so mitbekommen hatten wie er.
Scott hat meinen Abstieg gebilligt, damit ich dann rasch wieder hinaufkonnte. So war es geplant. Und es hat geklappt. Ich verstehe nicht, warum er das schreibt.
Weiter deutete Krakauer in seinem Artikel an, daß die Kunden beim Abstieg nicht in diese katastrophale Lage geraten wären, wenn Boukreev bei ihnen ausgeharrt hätte. Eine Unterstellung, die geradezu niederschmetternd wirkte.
Daß das Wetter zu einem Problem werden könnte, wurde mir erst klar, als ich schon ziemlich weit unten war. Scott und ich hatten uns in erster Linie um den Sauerstoffvorrat unserer Kunden Sorgen gemacht. Ich tat das, was Scott von mir wollte.
Wäre ich höher oben gewesen, als der Sturm mit aller Gewalt losbrach, dann wäre ich mit den Kunden umgekommen. Das ist meine ehrliche Meinung. Ich bin kein Übermensch. Dieses Unwetter hätte uns allen das Leben kosten können.
Boukreev entschuldige sich und ging ins Haus, um sein russisch-englisches Wörterbuch zu holen. Als er wiederkam, blätterte er darin und schlug einige Wörter nach, während weiter vorgelesen wurde: »Boukreevs Ungeduld beim Abstieg erklärt sich vielleicht aus dem Umstand, daß er keinen zusätzlichen Sauerstoff benutzte und relativ leicht gekleidet war und daher hinunter mußte.«
Diesmal sagte Boukreev nichts, als er aufstand, doch als er wenig später wiederkam, hatte er ein paar Fotos in der Hand. Er legte sie zwischen die Weinflaschen auf den Tisch, und Martin Adams griff nach einem, das ihn und Boukreev auf dem Gipfel zeigte. »Toli«, sagte Adams, »die Bilder brauche ich nicht. Du warst so gut angezogen wie alle anderen. Den Kletteranzug hast du von mir bekommen.« Er nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte kopfschüttelnd: »Dieser Typ – er verzapft nichts wie blauen Dunst!« Das Foto zeigte Boukreev in dem Kletteranzug, den Adams ihm gekauft und geschenkt hatte, als er sich kurz vor der Expedition selbst genau dasselbe Modell zulegte.
Was die Frage des Sauerstoffs betraf, stand Boukreev ebenso vor einem Rätsel wie bei der Frage bezüglich seiner Kleidung.
Seit über fünfundzwanzig Jahren habe ich viele Berge bestiegen. Sauerstoff habe ich nur einmal bei einem Achttausender benutzt. Es war für mich nie ein Problem, und Scott war einverstanden, daß ich ohne kletterte.
Höchst dramatisch schildert Krakauer außerdem seine Begegnung mit Andy Harris, einem von Rob Halls Führern, oberhalb von Lager IV, wo er mit ihm über die Gefährlichkeit eines Eishangs zwischen ihnen und dem Lager diskutierte. Harris sei ausgerutscht und den Hang hinuntergeglitten, berichtet Krakauer, und dann vermutlich über die Lhotse-Flanke gestürzt und für immer verschwunden. Adams, der stumm lauschte, als dieser Abschnitt vorgelesen wurde, meldete sich nun mit sarkastischem Unterton zu Wort: »Das war ich. Das war ich, den er oberhalb von Lager IV sah, und ich war es, der mit ihm gesprochen hat.«
Ein paar Wochen, ehe Adams nach Santa Fe gekommen war, hatte Krakauer ihn angerufen und Mutmaßungen darüber angestellt, ob es Adams und nicht Andy Harris gewesen sein könnte, dem er bei seinem Abstieg oberhalb von Lager IV begegnet war. Adams legte auf und las noch einmal ein Interview durch, das Krakauer kurz nach der Katastrophe gegeben hatte. Nachdem er Krakauers Beschreibung überdacht und seine eigene Erinnerung zu Rate gezogen hatte, kam Adams zu dem Schluß, daß Krakauer sich geirrt haben mußte. Er rief ihn zurück und sagte, er sei nun überzeugt, daß die Person, der Krakauer oberhalb von Lager IV begegnet war, nicht Andy Harris, sondern er gewesen sei. Als Krakauer ihm das nicht so recht abnehmen wollte, sagte Adams: »Wetten wir, neunundneunzig zu eins, ich war es.« Laut Adams verlangte Krakauer weitere Beweise und ging auf die Wette nicht ein.
Obgleich durch den Artikel wie vor den Kopf geschlagen und gekränkt, überwog bei Boukreev Ratlosigkeit. Welches Motiv konnte Krakauer haben, ihn so hinzustellen? Boukreev hatte Krakauer eine Kopie der Antworten auf Wilkinsons Fragen gegeben, die auch eine Erklärung für seinen vorzeitigen Abstieg enthielt. Hatte Boukreev Krakauers
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