Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
nachmittags brach Boukreev zu einer Alleinbesteigung des Lhotse auf.
Wie Fischer Boukreev versprochen hatte, hatte er nach der Mount-Everest-Besteigung eine Expedition auf den Lhotse geplant. Charlotte Fox, Tim Madsen und Sandy Pittman sollten teilnehmen, Boukreev und Beidleman waren als Führer vorgesehen. Untröstlich wegen Fischers Tod und zutiefst erschüttert, weil er Yasuko Namba nicht hatte retten können, wollte Boukreev sofort zurück in die Berge. Am 17. Mai um siebzehn Uhr sechsundvierzig erreichte Boukreev im Alleingang den Lhotse-Gipfel. Ein Blick zum Everest zeigte ihm die Route, über die er und die anderen abgestiegen waren. Auf der Höhe von 8350 Meter blieb sein Blick haften. So weit war Scott Fischer gekommen. Boukreev hatte es nicht geschafft, ihn ins Lager herunterzubringen.
Am 22. Mai verließ der letzte der Mountain-Madness-Gruppe Kathmandu. Manche trugen Verbände wegen ihrer Erfrierungen, aber keiner hatte Schäden davongetragen, die eine Amputation nötig gemacht hätten. Charlotte Fox hinkte leicht. Tim Madsen und Lene Gammelgaard hatten Erfrierungen an den Fingern. Das waren unsere ernstesten Fälle. Auch ich hatte Glück gehabt und nur eine leichte Erfrierung an der Hand, wodurch in den nächsten Tagen die Haut an den Fingerspitzen abgehen würde. Auch an Nase und Lippen hatte die Kälte ihre Spuren hinterlassen. Gemessen an dem, war wir erlebt hatten, waren wir glimpflich davongekommen. Wir hatten sämtliche Finger und Zehen behalten – und unser Leben.
Boukreev und Beidleman blieben noch in Kathmandu, um alles Geschäftliche zu erledigen, wobei Beidleman aus sprachlichen Gründen den Großteil übernahm. Nach der Katastrophe am Berg waren beide physisch und psychisch ausgelaugt und konnten es kaum erwarten, Kathmandu den Rücken zu kehren und den Berg endgültig hinter sich zu lassen. Insbesondere Boukreev bemühte sich, der Pressemeute zu entgehen, die sich ihnen an die Fersen geheftet hatte, seitdem sie vom Everest gekommen waren und sich im Yak-und-Yeti-Hotel in Kathmandu eingeigelt hatten.
Die Welt schien ausgehungert nach der Story. In meiner ganzen Bergsteigerlaufbahn hatte ich noch nie so viel Interesse an einem Ereignis im Himalaja erlebt. Ich konnte mich über diese Neugierde nicht genug wundern. Was macht Wracks, Kriege, Fehlschläge und Katastrophen so faszinierend? Für mich ist es unbegreiflich.
Ich und die meisten anderen Expeditionsmitglieder taten alles, um der Presse auszuweichen, da wir unter uns bleiben wollten. Wir alle sahen die Welt nun mit anderen Augen, in leuchtenderen Farben, und nahmen die einfachen Freuden des Lebens deutlicher wahr. Wer das Glück gehabt hatte, wohlbehalten zurückzukehren, genoß diese Momente der Neuentdeckung des Lebens in vollen Zügen.
Am 24. Mai hatten Neal und ich alles erledigt. Wir verabschiedeten uns von den Sherpas, regelten unsere Angelegenheiten im Ministerium für Touristik und fuhren zum Flughafen, um nach Denver, Colorado, zu fliegen. Von dort wollte Neal weiter nach Aspen, während ich bei Freunden bleiben würde. Als wir die Maschine bestiegen, glaubten wir beide, daß wir die Ereignisse des 10. Mai nun für eine ganze Weile hinter uns hätten.
Boukreev und Beidleman hatten schon ihre Plätze in einer Maschine der Thai Airlines eingenommen und stellten sich auf die ersten Etappe ihrer Reise ein, die sie nach Bangkok und weiter nach Los Angeles und Denver führen sollte. Doch als Boukreev sich gerade anschnallte, kam ein Flugbegleiter mit der Mitteilung, ein paar Freunde wollten ihn vor dem Abflug noch sprechen.
Ich hatte keine Ahnung, wer mich sprechen wollte, und äußerte im Scherz zu Neal, daß Interpol womöglich hinter irgendeinem russischen Gauner her sei. In der Warte-Lounge wurde ich von zwei Journalisten mit Fernsehkameras empfangen, die mich mit vielen komischen Fragen über meine Verfassung und die »Bedeutung« meines Everest-Erlebnisses bombardierten. Ich sprach eine Viertelstunde lang mit ihnen. Belanglos, dachte ich. Belanglos.
Boukreev war verblüfft über das Medieninteresse und frustriert von den Fragen. Das Geschehen am Berg war eine Tragödie, die er in den wenigen Minuten, die er mit den Reportern sprach, unmöglich begreiflich machen konnte. Seine erste Begegnung mit der Presse war nur lästig gewesen, doch in den Wochen darauf folgten zahlreiche weitere Interviews, die sein Verständnis mitunter völlig überforderten.
Die Strecke zwischen Bangkok und Los Angeles
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