Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
ähnlich verwirrend. Wer die Aufstellung meiner Gipfelsiege kennt, die ich Jon übermittelte, weiß, daß ich es mir zur Gewohnheit gemacht habe, meine Aufstiege ohne Sauerstoff zu machen, und daß ich damit sehr gut gefahren bin. Wie in meinem Brief von 31. Juli erwähnt, war Scott Fischer einverstanden, daß ich ohne Sauerstoff ging, da meine bisherige Kletterlaufbahn und meine Leistungen für sich sprachen. Ich denke, daß mein Einsatz am 10. und 11. Mai 1996 eine Bestätigung von Scotts Vertrauen war. Betrachtet man die Kommentare in ihrer Gesamtheit, kann man sich nur wundern. Man fragt sich, warum angesichts vorliegender Beweise, die entweder das Gegenteil der Anschuldigung zeigten oder den Sachverhalt in Frage stellen, nicht alle Tatsachen überprüft oder telefonisch geklärt wurden.
In meinem Brief vom 31. Juli wollte ich keinesfalls behaupten, daß mein Vorgehen noch das eines anderen an jenem Tag auf dem Berg über alle Zweifel erhaben war. Wir alle haben das »Was wäre wenn«-Szenario immer wieder durchgespielt. Wogegen ich mich aber wehre, sind Analysen und Unterstellungen, die jeder Grundlage entbehren.
Ginge es um eine Ungenauigkeit auf einer Landkarte oder um eine falsche Höhenangabe, könnte ich mich auf vierhundert Wörter beschränken. Da hier jedoch mehr auf dem Spiel steht, bitte ich Sie höflichst, dies zu berücksichtigen und den vollständigen Brief zu veröffentlichen.
Mit freundlichen Grüßen
Anatoli Boukreev
Am 2. August antwortete Wetzler und bot Boukreev erneut an, den Brief zu veröffentlichen, um mitzuhelfen, seine »Argumente« herauszuarbeiten und ihnen »wahrscheinlich« mehr »Durchschlagskraft« zu verleihen. Diesmal bot Wetzler Raum für dreihundertfünfzig Wörter an. Wieder lehnte Boukreev ab.
5. August
Mr. Brad Wetzler
»Outside«
400 Market Street
Santa Fe, NM 87501
Sehr geehrter Mr. Wetzler, haben Sie vielen Dank für Ihr Schreiben vom 2. August und Ihr Eingehen auf meine Bitte.
Ihr Angebot der Veröffentlichung ist sehr großzügig, doch sehe ich keine Möglichkeit, Jon Krakauer in dreihundertfünfzig Wörtern zu antworten. Die Fragen sind sehr komplex. Es geht um Anschuldigungen, die jeder Tatsache entbehren, um Unterstellungen, um journalistische Integrität und Professionalistät, um Ausdruck persönlicher Gefühle und mein Bestreben, eine auf Fakten basierende Analyse der Ereignisse auf dem Everest zu erstellen. Meinen Brief im Hinblick auf bessere Argumentation oder mehr Durchschlagskraft zu bearbeiten, würde bedeuten, die Details zu verwässern und meine Absichten zu gefährden. Ich weiß Ihre Bemühungen in dieser Sache zu schätzen.
Anatoli Boukreev.
Neun Monate später, im April 1997, erschien Jon Krakauers Buch »In eisige Höhen«, eine erweiterte Version seines in Outside veröffentlichten Artikels. Trotz der ausgedehnten Interviews, die er noch nach dem Erscheinen seines Artikels geführt hatte, war Krakauers Haltung gegenüber Boukreevs Rolle bei den Ereignissen am Everest fast unverändert. Im Buch zitiert er immerhin Boukreevs Bemerkungen aus dem Wilkinson-Interview, das er im Juni 1996 bekommen hatte. »Ich blieb (auf dem Gipfel) etwa eine Stunde... Die Kälte kostet natürlich Kraft... Ich war der Meinung, daß es nicht gut wäre, wenn ich nur herumstünde und friere und warte. Viel besser war es, wenn ich rasch abstieg, in Lager IV Sauerstoff holte und den absteigenden Kletterern zu Hilfe käme, falls jemanden beim Abstieg die Kräfte verließen... In der Höhe und Kälte verliert man an Kraft, wenn man untätig bleibt, und ist dann zu nichts mehr zu gebrauchen.«
Krakauer fährt in seinem Bericht fort und sagt, »aus welchem Grund auch immer, er lief seiner Gruppe voraus.« Wie in seinem Originalartikel weckte Krakauer im Leser die Vermutung, daß Boukreev eigenmächtig und nur aus Sorge um das eigene Wohl so handelte.
Ein Vergleich von Krakauers Zitat mit dem Wortlaut von Boukreevs Interview mit Wilkinson (siehe S.245) zeigt, daß Krakauer Boukreevs Erklärung für seinen frühen Abstieg ausgelassen hat. »Dann fragte ich ihn, was er von mir erwarte – mit all meinen Bedenken und in meiner Position. Was er darauf sagte? Wir sprachen von der Notwendigkeit, unten Hilfe bereitzustellen. Es kam auch zur Sprache, ob ich absteigen sollte. Er sagte, daß er es für eine gute Idee hielt und daß alles im Moment gut sei.«
Wieder wunderte Boukreev sich über Krakauers Deutung seines Abstiegs und versuchte auszuloten, warum Krakauer die
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