Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest

Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest

Titel: Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anatoli Boukreev , G. Weston Dewalt
Vom Netzwerk:
Leben, und wie am Tag zuvor war es auch diesmal nicht einfach für mich. Das Dasitzen fiel mir so schwer, daß ich aufstand und mir eine Ausstellung von Scotts Fotos ansah.
    Scott und ich waren uns in manchem ähnlich gewesen, in vielem aber hatten wir uns unterschieden. Trotz unserer Differenzen und Meinungsverschiedenheiten hatte ich ihn als Mensch und Bergsteiger sehr respektiert. In fünf Jahren, vielleicht auch schon früher, würden nur noch seine Familie und seine engsten Freunde an ihn denken, doch war zu hoffen, daß alle seine positiven Eigenschaften, die er in die Bergsteigerei eingebracht hatte, in dieser Sportart weiterleben würden. Seine Beziehungen sowohl zu den Kameraden als auch zu den Kunden waren von enormer Begeisterung und Energie geprägt, die die Leute in ihren Bann schlugen. Er war wohl mehr Romantiker als Geschäftsmann, und das schätzte ich an ihm besonders. Seine Kraft, seine Liebe zum Leben und seine Warmherzigkeit waren in mir auf Resonanz gestoßen. Ich wollte auch in schwierigen Zeiten nicht vergessen, was der Bergsport ihm zu verdanken hatte, ebenso wie ich hoffte, einige seiner Eigenschaften annehmen zu können.
     
    Zu Boukreevs Verwunderung und Betroffenheit bedeuteten die Gedächtnisfeiern kein Entrinnen vor der Presse. Er tat sein Bestes, um die Fragen der Journalisten zu beantworten. Die Zeitschrift Life und der Fernsehsender ABC wollten Interviews, und Boukreev gab sie. Er war bemüht, sich verständlich zu machen, weil er hoffte, dazu beitragen zu können, die »Gretchenfrage« zu beantworten: Was war wirklich geschehen? Boukreev kannte aus dem eigenen Erlebnis heraus ja nur Teile der Story. Er kämpfte selbst darum, um zu begreifen, was schiefgegangen war.
    Er sprach auch mit Jon Krakauer, der Interviews mit allen Expeditionsteilnehmern machte, um ihre jeweilige Version der Geschichte zu hören. Rückblickend sagte Boukreev, daß das Interview seiner Ansicht nach sehr voreingenommen geführt wurde und sein unzulängliches Englisch Krakauer frustrierte. In dem Bemühen, sich Krakauer besser verständlich zu machen, gab Boukreev ihm eine Fotokopie seiner Antworten auf Pete Wilkinsons Fragen. Darunter war auch eine, die sich auf sein Zusammentreffen mit Scott Fischer oberhalb des Hillary Step bezog, als Scott im Aufstieg begriffen und auf dem Weg zum Gipfel war:
    »Scott kam herauf, und wir sprachen miteinander. Bis zum Gipfel war es je nach Tempo noch eine halbe oder ganze Stunde. Scott war der Boß, und ich war der Meinung, daß er seine Entscheidungen selbst treffen müßte. Er konnte stehenbleiben und auf Kunden warten oder weitergehen. Was ich mir dachte? Scott war Scott. Er trug die Verantwortung für die Expedition. Seine Fähigkeiten waren groß. Er war sehr gut bei Kräften. In dieser Höhe fühlt sich kein Mensch richtig wohl. Er ging weiter zum Gipfel. Ich weiß nicht. Als ich ihn fragte, wie er sich fühlte, sagte er, ›nicht sehr gut, aber okay‹. Wer Scott kannte, wußte, daß bei ihm immer alles okay war. Er war ein starker Bergsteiger, in Amerika einer der stärksten, deshalb war die Katastrophe mit Scott schwer voraussehbar.
    Ich war in Sorge um die Kunden, aber nie wäre mir der Gedanke gekommen, daß Scott etwas zustoßen könnte. Ich sprach mit ihm über die Kunden und sagte, daß alle sich gut fühlten. Dann fragte ich ihn, was er von mir erwarte – mit all meinen Bedenken und in meiner Position. Was er darauf sagte? Wir sprachen von der Notwendigkeit, unten Hilfe bereitzustellen. Es kam auch zur Sprache, ob ich absteigen sollte. Er sagte, daß er es für eine gute Idee hielt und daß alles im Moment gut sei. Ich war der Meinung, daß es nicht gut wäre, wenn ich nur herumstünde und friere und warte. Viel besser wäre es, wenn ich rasch abstieg, in Lager IV Sauerstoff holte und den absteigenden Kletterern zu Hilfe käme, falls einen beim Abstieg die Kräfte verließen. In der Höhe und Kälte verliert man Kraft, wenn man untätig bleibt, und ist dann zu nichts mehr zu gebrauchen.«
     
    Ende Juli erhielt Boukreev eine Kopie des Artikels von Krakauer im Outside-Magazin . Martin Adams kam zufällig am gleichen Tag nach Santa Fe, um ihn zu besuchen. Sie hatten einander seit Kathmandu nicht mehr gesehen. In der Dämmerung eines Sommerabends mit Freunden auf einem Patio um einen großen runden Tisch sitzend, hörten Boukreev und Adams zu, als der Artikel laut vorgelesen wurde. Als Krakauer auf ihn zu sprechen kam, beugte Boukreev sich vor, um jedes Wort und

Weitere Kostenlose Bücher