Der Gipfel
direkt vor mir gewesen war, zurück, und Stu und ich besprachen die Lage. Ich weiß nur noch, daß er von zwei Faktoren überzeugt war: Erstens würde Rob alle zur Umkehr bewegen, weil wir uns so verspätet hatten. Der Stau an den Seilen machte es unmöglich, daß wir es, wie geplant bis dreizehn Uhr schafften. Unsere Umkehrzeit war dreizehn Uhr. Das war der zweite Punkt, von dem Stu überzeugt war. Ich weiß nur noch, daß ich sagte, ich wolle noch nicht absteigen. Dann setzte ich meinen Aufstieg fort, bin aber nicht weit gekommen.
Es war elf Uhr dreißig, und ich war im hinteren Teil des Seilstaus. Dort hing ich sehr lange. Als Langstreckenläufer habe ich große Übung darin, Anstrengungen und Härten zu verkraften. Ich halte mich wirklich für einen Ausdauer-Athleten. Und so verdrängte ich alles und machte einfach weiter. Das ist nicht unbedingt empfehlenswert, weil es gefährlich ist. Ich bewegte mich also Schritt für Schritt weiter. Und als ich dann im Stau ganz hinten war – knapp unter dem Südgipfel – fiel ich auf die Knie, hängte mich ins Seil ein und rastete. Ich war sehr stark dehydriert und zog einen Handschuh aus, um Schnee zu schöpfen. Das ist nicht unbedingt das Klügste, aber etwas anderes hatte ich nicht. Mein Wasser steckte als Eisblock in meinem Rucksack. Ich merkte, daß alle meine Finger Erfrierungen abbekommen hatten. Ich zog den zweiten Handschuh aus: dasselbe. Das war eigentlich keine Überraschung, ich hatte es gewußt. Aber es war mir in diesem Augenblick egal, weil der Everest-Gipfel für mich so wichtig war, daß ich ihn schaffen wollte, egal wie. Während ich raste te, kam ich jedoch irgendwie wieder zu mir, und ich überlegte, was wirklich mit mir vorging. Ich horchte in mich hinein und erkannte den Grad meiner Erschöpfung. Außerdem: die atemberaubende Aussicht vom Balkon, der herrlichste Blick den ich je gesehen hatte – davon war nichts mehr da. Man hatte jetzt talwärts keine Sicht mehr. Ich will damit nicht sagen, daß das Wetter schlecht war, doch es hatte einen Wetterumschwung gegeben.
Ich fragte Lhakpa, einen unserer Sherpas, wie lange noch – ich wußte, daß wir ganz nahe dran waren –, und er sagte, noch zwei Stunden. Als ich dann fragte, wo wir seiner Meinung nach wären, sagte er ›auf 8700 Meter‹. Ich war nicht einmal imstande – mein Gehirn war es nicht – die Meter in Fuß umzurechnen. So stand es also um meine Gehirnfunktion. Als ich hörte: zwei Stunden, erschrak ich. Ich glaube, in diesem Moment traf es mich wie ein Blitz. Ich wußte, daß ich ein Problem hatte. Es war nicht die Frage, ob ich noch zwei Stunden gehen konnte. Bis zum Gipfel würde ich es schaffen. Aber ich begann zu zweifeln, ob ich es wieder herunter schaffen würde. Ich hatte das Gefühl, ich würde entweder draufgehen oder ich würde weiß Gott wie runterkommen.
Da ich schon öfter in der Klemme steckte und es immer irgendwie geschafft habe, stritten nun zwei Stimmen in mir. Das weiß ich noch, es sind Augenblicke, die ich nie vergessen werde, da man mich immer vor dem Verlust der Vernunft in großer Höhe gewarnt hat. Zwei Stimmen kämpften in mir. Eine, die sagte, ich solle weitergehen: ›Tu es, du kannst es, was ist das schon, noch zwei läppische Stunden‹, während die andere drängte: ›Lou, beim Abstieg wirst du draufgehen, und wenn du es doch schaffen solltest, bist du deine Finger los.‹
Bis zum heutigen Tag wundere ich mich, daß ich wirklich kehrtmachte. Ich sagte zu Lhakpa: ›Geh und sag Robert, daß ich umkehre.‹ Das alles dauerte vier, fünf Minuten. Ich glaube, Stus Bemerkungen haben mich auch irgendwie beeinflußt, wenigstens oberflächlich. Aber ich weiß, daß ich meine Entscheidung allein traf, da ich an diesem Punkt erkannte, daß ich es nicht schaffen würde, lebendig hinauf- und wieder herunterzukommen. Zumindest nicht heil und unversehrt.
Zusammenfassend möchte ich sagen, daß ich nicht mehr glaubte, es zu schaffen. Im günstigsten Fall hätte ich Finger und Zehen verloren. Dazu kommt, daß ich zum Unterschied von einigen anderen nicht unter Druck stand. Ich wollte zwar auf den Everest-Gipfel, hätte mir im Falle eines Fehlschlags aber nicht den Kopf abgerissen. Aber ich lebe in Detroit. Wenn ich dorthin zurückkomme und sage: ›Ich war auf dem Mount Everest‹, würde man mich ansehen und antworten: ›Ja gut, aber weißt du schon das Neueste von den Detroit Redwings?‹ Damit will ich sagen, daß es dort niemanden kümmert, da kaum einer weiß,
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