Der Gipfel
wo der Mount Everest ist. ›Ja, richtig, ist das nicht, der höchste Berg der Welt?‹ Tatsächlich sagten viele: ›Und ich dachte, du wärest schon oben gewesen.‹ Für mich war es also keine Angelegenheit auf Leben und Tod, nicht die wichtigste Sache der Welt, und die Presse hätte auch nicht über mich berichtet. Ruhm und Geld, Weltrekorde, alles das, was für die anderen auf dem Spiel stand – für einige jedenfalls –, das alles fiel bei mir weg. Der Gipfel hätte mir viel bedeutet, keine Frage. Aber es war nicht so, daß mein Ehrgeiz jede andere vernünftige Überlegung ausgeschaltet hätte.«
Gegen elf Uhr vierzig kehrte Lou Kasischke um, ebenso wie Stu Hutchison und John Taske. Für sie war der Everest gelaufen. Kasischke weiß noch, daß er um die Mittagszeit mit Scott Fischer zusammenstieß. »Wir sprachen miteinander, und ich sagte zu ihm: ›Scott, ich halte es für vernünftiger, wenn ich umkehre.‹ Die Ironie liegt darin, daß ich mir damals nicht allzuviel dabei dachte, aber Scott schaute mich an und sagte: ›Eine gute Entscheidung, Lou.‹
Er war der alte Scott, augenzwinkernd, Schnee im blonden Haar – sein Aussehen, dieses typisch Amerikanische an ihm. Wir blieben etwa eine halbe Minute stehen, dann ging er in diese und ich in die andere Richtung.«
15. Kapitel Die letzten hundert Meter
Am Südgipfel, hundert Meter unter dem Everest-Gipfel, traf Martin Adams auf einen nicht allzu glücklichen Neal Beidleman. »Ich weiß nicht, warum, aber er sagte nicht viel und schien schlechter Laune. Ich setzte mich, nahm den Rucksack ab und holte Wasser heraus, von dem ich Neal anbot. Er nahm es an, weil seines gefroren war.«
Adams erinnerte sich, daß sie eine Weile, so gegen zwanzig Minuten, dasaßen und wenig sprachen. Dann stand Beidleman auf und stieg zu einer natürlichen Nische knapp unterhalb des Südgipfels ab, die Schutz vor dem Wind bot.
Adams folgte ihm, und als sie sich wieder setzten, frage Beidleman ihn: »Wieviel Sauerstoff hast du?« Adams nahm seine Flasche vom Rücken. »Mein Druckmesser zeigt fünf Liter an, und wieviel hast du?« Er antwortete: »Ich auch, fünf Liter, aber ich habe noch eine Flasche von Toli.«
Adams Ungeduld mit dem Tempo kämpfte mit seinem natürlichen Drang zur Aktivität, da er nicht der Typ war, der herumhockte. Sogar in diesem von leichter Höhenkrankheit beeinträchtigten Zustand begriff er sehr wohl, daß er die letzten Reste seines Sauerstoffs aus der zweiten Flasche atmete.
»Ich wußte also, daß ich mein Glück herausforderte, aber ich sagte zu Neal: ›Gehen wir! Gib mir die volle Flasche und gehen wir.‹ Aber er antwortete: ›Nein, die kriegst du nicht.‹ Deshalb sagte ich: ›Okay, ich habe fünf Liter, gib mir deine fünf dazu, und nichts wie weg hier.‹ Damit war er einverstanden, aber wir gingen keinen Schritt weiter.«
Von nun an hielt Adams unausgesetzt Ausschau nach einem der Sherpas, die die zusätzlichen Flaschen heraufschleppten. Sein einziger Gedanke war: »Wann wird endlich alles richtig laufen?« Das sollte allerdings noch eine Weile dauern.
Kurz vor dem Südgipfel ließ ich Tim Madsen am Fixseil an mir vorüber und war beruhigt, als ich sah, wie zügig er mit Sauerstoff vorankam. Am Südgipfel angekommen, sah ich dort Martin, Neal, Ang Dorje und einige andere, aber keiner rührte sich vom Fleck. Es sah aus, als hätte ihre Energie sie im Stich gelassen. Es war schön und sonnig, und allen war in ihren Daunenanzügen warm, obwohl der Wind nun stärker wurde. Weil wir schon so lange unterwegs waren, schwanden die Kräfte, und keiner hatte es eilig.
Über eine Stunde nach seiner Ankunft auf dem Südgipfel erkannte Adams den ersten Mountain-Madness-Sherpa, der heraufkam, und ging zu ihm, um sich seine dritte und letzte Flasche zu holen. Er warf seine eigene und jene, die Beidleman ihm gegeben hatte, weg und schraubte seinen Schlauch an die volle. Nun atmete er ein wenig leichter. Jetzt hatte er mindestens für sechs weitere Stunden Sauerstoff, mehr als genug, wie er glaubte, um zum Gipfel und wieder zurück zum Lager IV zu kommen. Er sollte sich leider irren.
Während meiner Rast sah ich mich um und bemerkte, daß Ang Dorje einen müden Eindruck machte. Auch die anderen Sherpas schienen nicht bereit weiterzugehen, obwohl es vor dem Aufbruch geheißen hatte, daß sie die Fixseile am Hillary Step anbringen würden.
Auf dem Südgipfel fragte ich mich auch, wo Scott denn blieb, da ich es für angebracht hielt, eventuell ein
Weitere Kostenlose Bücher