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Der Gitano. Abenteuererzählungen

Der Gitano. Abenteuererzählungen

Titel: Der Gitano. Abenteuererzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Unschuld zu geben, welche sich mir hier offenbarte, zu einem weiblichen Wesen verkörpert, wie es mir weder ein Gemälde noch ein Gebild meiner Phantasie gezeigt hatte. Das war nicht ein Weib, sondern ein Mädchen, nicht die Frau des Kaufmanns, sondern jedenfalls ihre Schwester. Mit einem raschen Schritte stand ich an der Brüstung, und mit einem schnell gewagten Sprunge befand ich mich unten bei ihr, vor ihr, in ihrer unmittelbaren Nähe, so daß ich meine Arme hätte um sie legen können, wenn sie nicht zurückgewichen wäre.
    Sie hatte etwas Vergessenes vermißt und war wieder zurückgeeilt, ohne zuvor den Schleier umzulegen. Jetzt nun stand sie vor mir, übergossen von der Gluth des Schreckens, und deutlich sah ich das Zittern, unter welchem sie erbebte. Es war mir, als sei der Himmel offen, um mir all’ seine Seligkeiten anzubieten, und mit einem raschen Griffe faßte ich nach ihr und hielt sie bei den beiden kleinen, weißen Händen. Aber sprechen, sprechen konnte ich nicht, ebensowenig wie sie; ich war nicht der rasche, waghalsige Mann, als den Du mich ja kennst, sondern ich war wie ein Kind, wie Bettler, der nicht wagt, einen Laut über seine Lippen kommen zu lassen und das Verlangen nach Gnade und Barmherzigkeit nur in dem überwältigenden Blick seines Auges concentrirt.
    Auch ihr Auge sprach. Zwar suchte es den Boden, aber ich bemerkte keinen Zorn in seinem Blicke, sondern nur Angst und Beklemmung. Ich wußte Alles, Alles: Auch sie hatte mich während ihrer wiederholten Anwesenheit auf dem Dache bemerkt, mich beobachtet und vielleicht Theilnahme für den einsamen Fremden empfunden, der ihr so viel Aufmerksamkeit schenkte. Ein Gefühl unendlichen Glückes schwellte mir die Brust, und im nächsten Augenblicke hatte ich sie an mich gezogen und legte meinen Mund auf ihre weichen, schwellenden, lebenswarmen Lippen. Mit Anstrengung all’ ihrer Kräfte wollte sie sich loswinden, ich aber hielt sie fest und fragte:
    »Bitte, o bitte, sage mir Deinen Namen!«
    »Ich heiße Warde,« klang es leise, und mit einem neuen Versuche, mir zu entschlüpfen, fügte sie hinzu: »Laß mich gehen, es ist Tag, und mir wird angst!«
    »Warde, Warde heißest Du? Das bedeutet in der Sprache meines Landes ›Rose.‹ Willst Du meine Rose sein – meine Rose?«
    Sie antwortete nicht, sondern rang weiter mit meinen sie noch immer umschlingenden Armen.
    »Es ist Tag, sagst Du, und darum wird Dir angst? Würdest Du fliehen, wenn es dunkel ist und kein Verräther meine Küsse sehen könnte?«
    »Laß mich gehen, o laß mich!«
    »Kommst Du denn wieder, heut’, wenn es Abend geworden ist?«
    »Ich darf nicht!«
    Enger zog ich sie wieder an mich und drohte ihr energisch:
    »Ich halte Dich fest, bis Du mir sagst, daß Du kommst.«
    »Du bist ein Franke, und Dein Herz gehört der Heimath und –«
    »O nein, nein,« unterbrach ich sie, »mein Herz gehört Dir, Dir, nur Dir, und nie wird es an eine Andere denken! Kommst Du?«
    »Ich komme,« hauchte sie.
    »Allein?«
    »Allein!«
    »Noch einen Kuß, gegen den sie sich jetzt nicht sträubte, und dann eilte sie davon. Ich stand wie ein Träumender; doch bald mußte ich mich an das Gefährliche meiner Lage erinnern. Ein Blick empor zur Brüstung, von welcher ich herabgesprungen war, zeigte mir, daß die zerbröckelten Backsteine der Mauer meinen Händen und Füßen zwar gefährliche, aber doch Stützpunkte zum Emporklimmen boten, und bald befand ich mich wieder oben. Zurück mich wendend, gewahrte ich die letzte verschwindende Falte eines weiblichen Gewandes. Sie war in Sorge um mich gewesen und hinter dem Treppenvorsprunge stehen geblieben, bis sie mich in Sicherheit wußte. Sie liebte mich; jetzt wußte ich es sicher, und mit Ungeduld erwartete ich den Abend.« –
    Während er von diesem glücklichsten Augenblicke seines Lebens erzählte, rötheten sich seine blassen Wangen und seine Augen, füllten sich mit seligem Glanze. Ja, so war er: kühn, entschlossen und den Augenblick benutzend. Warum hatte ich es nicht auch so mit Leïlet gethan! –
    »Sie hielt Wort,« fuhr er in seiner Erzählung fort; »sie kam, und von nun an sahen wir uns täglich und beschäftigten uns bald ernstlich mit der Berathung über unsere Zukunft. Da bemerkte ich, daß sie einsylbiger und stiller war als sonst. Ich frug nach dem Grunde und erfuhr, daß jetzt täglich ein reicher Egypter zu ihrem Bruder komme und mit ihm über sie zu verhandeln scheine. Du weißt, daß hier die Frauen gekauft werden, oder

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