Der gläserne Schrein (German Edition)
Handgelenke zurrte. Sie stieß einen Schmerzenslaut aus, doch die Männer achteten gar nicht darauf, sondern schoben ihr gewaltsam einen Knebel zwischen die Lippen. Dabei konnte sie einen kurzen Blick auf den Mann werfen, der sie überwältigt hatte. Entsetzt riss sie die Augen auf, doch schon einen Augenblick später wurde ihr ein Stoffsack über den Kopf gezogen, sodass sie nichts mehr sehen konnte.
Roh stießen die Männer sie voran und hoben sie erneut in eine Sänfte, die sich kurz darauf in Bewegung setzte.
Marysa lag auf dem Bauch. Der Sack und der Knebel in ihrem Mund gaben ihr das Gefühl, ersticken zu müssen. Verzweifelt bemühte sie sich, eine andere Lage einzunehmen. Schließlich gelang es ihr, sich auf die Seite zu drehen.
«Hör auf, rumzuzappeln», knurrte der falsche Bettler.
***
Milo erwachte, weil er keine Luft mehr bekam. Hustend und spuckend versuchte er den Kopf zu heben, der mitten in einer schlammigen Pfütze lag. Dabei schoss ihm ein stechender Schmerz durch die Schläfe. Er schaffte es, sich auf den Händen abzustützen und seitlich wegzurollen. Heftig atmend, starrte er auf die tiefe Wasserlache, die beinahe für seinen Tod verantwortlich gewesen wäre. Dann blickte er sich um und stellte fest, dass er in einer finsteren Seitengasse zwischen dem Kaxhof und der Kreme lag. Ausgerechnet an jenem Ort, so erkannte er, an dem damals Marysa Markwardts Gemahl niedergestochen und tödlich verletzt worden war. Man hatte ihn offenbar mit Absicht so abgelegt, dass sein Kopf in der Pfütze lag. Er konnte allerdings nicht lange ohnmächtig gewesen sein, denn sonst wäre der Plan seines Angreifers mit Sicherheit aufgegangen.
Nachdem sich Atem und Herzschlag wieder etwas beruhigt hatten, stand Milo vorsichtig auf und bemühte sich, den Schwindel, der ihn ergriff, zu überwinden. Weshalb hatte man ihn überhaupt niedergeschlagen? Und wo war Frau Marysa? Er hatte sie zum Haus des Dompfaffen begleitet und dann …
Fluchend lief Milo los. Seine Herrin schwebte in Gefahr, dessen war er sich vollkommen sicher. Sie forschte mit Bruder Christophorus wegen der Vorgänge in der Chorhalle nach, so viel hatte er natürlich längst mitbekommen. Jetzt hatte ihn jemand niedergeschlagen, um … Ja, um was zu tun? Frau Marysa zu entführen? Oder ihr noch Schlimmeres anzutun?
Mit jedem Schritt wurden Milos Kopfschmerzen schlimmer, Übelkeit erfasste ihn und drehte ihm beinahe den Magen um. Mehrmals musste er stehen bleiben, um zu verschnaufen. Er hätte gerne jemandem von seinen Befürchtungen erzählt, doch die Straßen waren ausgerechnet jetzt menschenleer. Schließlich erreichte er den Büchel und taumelte auf Marysas Haus zu. Er stieß das Tor zum Hof auf und fiel Grimold geradewegs vor die Füße.
***
Mit hochgezogener Kapuze strebte Christophorus von der Kockerellstraße in Richtung Taverne und Herberge Zum Goldenen Ochsen . Er hatte sich in dem angesehenen Gasthaus eine Kammer und den Stellplatz für ein Pferd angemietet, nachdem er seit dem Vortag darüber nachgedacht hatte, wie er die verfahrene Situation, in der Marysa und er sich befanden, am sinnvollsten ändern konnte. Schließlich war ein Plan in ihm herangereift. Es war ein gewagter Plan, gewiss, aber durchführbar.
Er benutzte nicht den Vordereingang des Ochsen , sondern eilte um das Haus herum und schlich sich durch die Hintertür. Ungesehen erreichte er seine Kammer und legte rasch wieder sein Dominikanerhabit an. Lange würde er es nicht mehr tragen, so hatte er beschlossen. Solange er in Marysas Haus noch als Bruder Christophorus auftrat, blieb ihm jedoch nichts anderes übrig.
Wenig später verließ er die Herberge auf demselben Weg, auf dem er sie betreten hatte, um zum Büchel zu gehen und mit Marysa zu sprechen. Der Hinterhof der Herberge lag verlassen da. Lediglich eine Magd schleppte einen Eimer Wasser an ihm vorbei ins Haus. Christophorus wollte gerade zur Straße gehen, als er hinter sich das leise Knirschen von Stiefelsohlen vernahm. Noch ehe er sich zu seinem Verfolger umdrehen konnte, traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf und löschte alles um ihn herum aus.
***
«Was soll das heißen, Marysa ist verschwunden?» Alarmiert blickte Bardolf den aufgeregten Jaromir an, der, nachdem sie Milo im Hinterhof aufgelesen und verarztet hatten, sofort in die Kockerellstraße gerannt war. «Wo ist Bruder Christophorus?»
Jaromir zuckte hilflos mit den Schultern. «Er hat Frau Marysa gestern Morgen begleitet, aber dann kam sie allein nach Hause
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