Der gläserne Schrein (German Edition)
denken, ihn anzunehmen. Zwar war das Angebot verlockend, es setzte aber voraus, dass sie langfristig einen begabten Schnitzer einstellte. Bruder Christophorus würde nicht ewig heimlich für sie arbeiten können. Schon jetzt fürchtete sie, dass ihr irgendwann jemand unbequeme Fragen stellen könnte. Gesellen von außerhalb, die längere Zeit in Aachen arbeiteten, mussten ordnungsgemäß der Zunft gemeldet werden. Länger als ein paar Wochen würden sie dieses Versteckspiel nicht aufrechterhalten können. Über kurz oder lang würde jemand nach ihrem Schnitzer fragen und ihn persönlich kennenlernen wollen.
Innerlich wand sich Marysa, doch um den Abt nicht zu enttäuschen und weil das Angebot einfach zu verlockend war, versprach sie ihm, darüber nachzudenken und ihm im Januar Entwürfe für den Schrein zukommen zu lassen.
Abt Winand lud sie daraufhin ein, im Gästehaus des Klosters mit ihren Begleitern eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, bevor sie mit Bruder Konrad nach Aachen zurückfuhren.
«Das ist sehr freundlich von Euch», sagte sie lächelnd. «Aber ehrlich gesagt würde ich gerne zu Fuß nach Hause zurückkehren.»
«Zu Fuß?» Erstaunt blickte der Abt sie an. «Aber es ist kalt und das Wetter unbeständig.»
Marysa blickte kurz durch eines der Fenster nach draußen. «Auf dem Weg hierher hat es aufgeklart. Wie Ihr seht, Vater Abt, scheint jetzt die Sonne. Und, mit Verlaub, die Fahrt auf dem Wagen war nicht sehr bequem. Zu Fuß kommt man bestimmt schneller voran.»
Der Abt rieb sich das Kinn. «Da habt Ihr nicht ganz unrecht. Aber wird Euch das nicht zu anstrengend, Frau Marysa?»
Marysa lachte. «O nein, keine Sorge, Vater Abt. Es ist ein Fußmarsch von zwei Stunden, schlimmstenfalls drei. Wenn wir zeitig losgehen, sind wir noch vor der Dunkelheit wieder in Aachen.»
Abt Winand nickte. «Nun, wenn Ihr es so seht und Euer Begleiter ebenfalls nichts dagegen einzuwenden hat …»
«Bruder Christophorus ist, denke ich, lange Fußmärsche gewöhnt», antwortete sie, nun wieder ernst. Nachdem sie den Abt ein weiteres Mal davon überzeugt hatte, dass sie zu Fuß schneller und bequemer in die Stadt zurückkämen, entließ dieser sie mit einem wohlwollenden Gruß an Johann Scheiffart.
***
Nachdem sie den deftigen Eintopf im Gästehaus verspeist hatten, machten sich Marysa, Christophorus und Milo wieder auf den Rückweg. Christophorus war nicht allzu begeistert von Marysas Wunsch, zu Fuß zu gehen. Zwar hatte er ihren Verfolger schon vor ihrer Ankunft in Kornelimünster aus den Augen verloren, aber das musste ja nicht bedeuten, dass dieser tatsächlich fort war. Einzig die Tatsache, dass der Weg zwischen Aachen und Kornelimünster auch um diese Jahreszeit eine viel befahrene Strecke war und ihnen auf dem Hinweg unzählige Händler, Bauernkarren und Pilger entgegengekommen waren, ließ ihn dem Vorhaben zustimmen.
Inzwischen war der Himmel tatsächlich fast vollständig aufgeklart. Eine noch etwas kraftlose Sonne ließ die Schneeflecke auf den Feldern aufleuchten und das Wasser in den Pfützen und Wasserrinnen glitzern. In der Ferne ballten sich jedoch schon neue Wolken zusammen, die der auffrischende Wind sicher bis zum Abend herangetrieben haben würde.
Während sie neben- und an einigen Stellen auch hintereinander hergingen, berichtete Marysa kurz von dem Angebot, das Abt Winand ihr gemacht hatte.
Christophorus blickte sie aufmerksam an. «Ihr wollt es annehmen?»
Marysa zögerte. «Ich würde es gerne, natürlich. Aber ich fürchte, es wird die Möglichkeiten meiner Werkstatt übersteigen.»
Milo, der ein Stück vorausgegangen war, verlangsamte seinen Schritt, bis sie aufgeholt hatten. «Warum?», fragte er. «Bruder Christophorus schnitzt doch so schöne Sachen. Die werden dem Abt sicher gut gefallen.»
Marysa und Christophorus sahen einander erschrocken an. Marysa wandte sich mit strenger Miene an ihren Knecht. «Woher weißt du davon?»
Milo zuckte grinsend mit den Schultern. «Ich hab gesehen, wie Bruder Christophorus Holz aus dem Lagerraum mit in seine Kammer genommen und später so einen Schreindeckel mit Blütenmuster in Euer Kontor gebracht hat.»
Marysa fixierte den jungen Knecht streng. «Hast du bereits mit jemandem darüber gesprochen?»
Milo schüttelte den Kopf. «Mit wem denn?»
«Dann versprich uns, dass es auch so bleibt», sagte Christophorus streng.
Milo winkte ab. «Von mir erfährt das niemand. Wenn es ein Geheimnis bleiben soll, schweige ich wie ein Grab.»
«Das
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