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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinald Koch
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fast schon einer Festung glich. Keines der Gebäude hatte auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit den Farmhäusern, die man bisher auf Ne Par gebaut hatte.
    Misstrauisch und durch üble Erfahrungen gewitzt, befahl der Leutnant, der den Vortrupp kommandierte, seinen Soldaten, in lockerer Schützenreihe auf das Dorf vorzugehen; doch er erlebte eine große Überraschung.
    Hinter dem Hügel erklang plötzlich eine eigenartige, liturgisch anmutende Musik, die von Altstimmen begleitet wurde und welche die Soldaten, die sich bei den ersten Klängen in Deckung geworfen hatten, zutiefst ergriff. Dann tauchte hinter dem Hügel eine Prozession farbig gekleideter Menschen auf, die mit gemessenem ruhigen Schritt dem Strand zustrebte, wo die Rakete stand.
    Mit verblüfften Gesichtern erhoben sich die Raumsoldaten einer nach dem anderen aus ihren Deckungen und klopften sich ein wenig verschämt den Staub und Sand von den Uniformen.
    Inzwischen war die Prozession näher gekommen, und die Soldaten unterschieden Männer und Frauen. Alle waren in einer Tracht gekleidet, wie man sie nie vorher auf einem Planeten der Union getragen hatte. Während die Frauen sangen, spielten die Männer auf verschiedenartigen einfachen Musikinstrumenten, die sie offensichtlich ohne allzu große Fertigkeit selbst hergestellt hatten.
    In der Mitte der Prozession wurde von acht nackten Männern ein großer, mit Tüchern verhängter Kasten getragen. Rechts und links dieses Kastens liefen je acht junge Männer, auch sie nackt bis auf einen kleinen ledernen Lendenschurz, und sie hatten Peitschen in den Händen.
    Die verwirrten Soldaten der Raumpolizei ließen die Prozession passieren, die unbeirrt zwischen ihnen hindurchzog. Dann folgten sie ihr, so wie neugierige Gaffer hinter einer Jahrmarktsensation herlaufen.
    Als der ganze Zug am Raumschiff angekommen war, bildeten die Männer und Frauen einen Halbkreis um den großen Kasten. Dieser wurde abgesetzt, und die acht Männer, die ihn getragen hatten, schlugen die schweren verhüllenden Tücher zurück. Eine Sänfte kam darunter zum Vorschein, in der ein uralter Mann saß. Der blinzelte in das helle Licht, blieb aber sonst unbewegt sitzen.
    Der Kommandant des Raumschiffes hatte den ganzen Aufzug über das Bordvideo verfolgt. Er erkannte, dass dies seine erste und vielleicht einzige Chance war, mit der Bevölkerung von Ne Par wieder in friedlichen Kontakt zu treten, so skurril ihn die Szene unter dem Raumschiff auch anmutete.
    Da er noch Offizier der großen Planetenunion gewesen war, hatte er in seiner Jugend eine gewisse psychologische und soziologische Ausbildung erhalten, hatte viele fremde Welten gesehen und gelernt, sich auf unerwartete Situationen einzustellen. Er ließ sich seine Galauniform bringen und versammelte die Offiziere seines Stabes um sich.
    In dem Augenblick, da sich die Luftschleuse vor ihm öffnete, erschollen mehrere Fanfarenstöße aus den Außenbordlautsprechern. Hinter ihrem Kommandanten formierten sich die Offiziere, und gemessenen Schrittes stiegen sie die Rampe hinab.
    Unten angekommen, blieben sie vor der Sänfte stehen und warteten, dass sie angesprochen würden. Tatsächlich trat einer der Peitschenträger vor, berührte mit dem Knauf seiner Peitsche die Stirn und sagte: »Der Oberste Mathematiker entbietet dir seinen Gruß.
    Er nimmt dich auf in der Menge der Punkte, die gleichen Abstand von ihm haben.«
    Der Schiffskommandant war nicht sicher, ob er dieser Anrede entnehmen sollte, dass sie willkommen seien, oder dass sie von nun an Untertanen des Obersten Mathematikers wären. Er antwortete deshalb vorsichtig und unter Berufung auf eine andere Autorität: »Der Oberste Chemiker entbietet auch euch seinen Gruß und nimmt euch auf in sein periodisches System der Elemente.«
    Der junge Mann, der den Gruß gesprochen hatte, schaute verwirrt den Kommandanten an, führte wieder den Knauf der Peitsche zur Stirn und zog sich zur Sänfte zurück.
    In der Sänfte saß der seit fünfzig Jahren pensionierte Mathematik-Oberlehrer Hagins und versuchte die Worte zu verstehen, die dieser nackte Schüler an seiner Seite ihm ins Ohr flüsterte. Sein Gehör hatte nachgelassen; er war auch beinahe hundertzwanzig Jahre. Er musste sich Mühe geben, das Geflüster des Jungen zu verstehen.
    »Ja … gut … ja! Der Oberlehrer für Chemie an der Landwirtschaftsschule? Wir sind doch Freunde gewesen.«
    »Ja, ja, Chemie!« Wie hatte er doch geheißen? Lebte er denn noch? Der Mund des greisen Lehrers

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