Der gläserne Wald
öffnete und schloss sich, und die Zunge fuhr über den ausgetrockneten Gaumen; das Sprechen wurde ihm immer beschwerlicher.
Erleichtert richtete sich der junge Peitschenträger vor der Sänfte auf. Der Oberste Mathematiker kannte den Obersten Chemiker. ›Ja, gut!‹ hatte er gesagt. Man konnte also mit diesen Leuten verhandeln. Er wandte sich wieder zu dem prächtig gekleideten Sprecher des Obersten Chemikers und sagte: »Der Oberste Mathematiker entbietet auch dem Obersten Chemiker seinen Gruß! Er kennt ihn gut. Mein Mund aber fragt euch: woher habt ihr den großen Wagen, der durch die Luft fahren kann, und was wollt ihr hier bei uns?« Und nach einem bewundernden Blick auf das turmhohe Landungsboot fügte er hinzu: »Der Oberste Chemiker muss große Macht besitzen!«
Der Kommandant glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. Es war doch nicht möglich, dass ein mindestens zwanzigjähriger Mann auf New Paris nicht mehr wusste, was ein Raumschiff war! Die Periode der Isolierung dauerte erst drei Jahre. Automatisch beantwortete er die Frage des Jungen: »Der große Chemiker auf Adapor braucht eine bestimmte Chemikalie, die im Saft einer Frucht enthalten ist.«
»Was wollt ihr gegen diese Früchte eintauschen?«
»Was braucht ihr hier? Ich weiß nicht, was das Wichtigste für euch ist.«
Wieder berührte der junge Mann mit dem Peitschenknauf die Stirn und beugte sich über den Greis in der Sänfte. Diesmal nahmen auch die anderen Peitschenträger an der Beratung teil.
Der Kommandant hatte inzwischen Muße, sich die Gesichter der im Halbkreis stehenden Sängerinnen und Musikanten anzusehen. Sie waren ausnahmslos ältere Leute zwischen dreißig und siebzig Jahren. Seltsam unbeteiligt schauten sie der Beratung an der Sänfte zu, als ginge sie das alles nichts an, und als seien sie auch nicht gewohnt, um ihre Meinung befragt zu werden.
Nach einer Weile erhoben sich die Peitschenträger, und ihr Wortführer verkündete: »Der Oberste Mathematiker wünscht, dass ihr je zur Hälfte Gold gebt und Rubinfäden. Gewicht gegen Gewicht! Seid ihr damit einverstanden?«
Auf Adapor hatte man damit gerechnet, technische Geräte, Industrieausrüstungen und wichtige Metalle nach Ne Par liefern zu müssen. Sicher war man mit Gold und Rubinfäden einverstanden. Wer hätte geglaubt, dass diese Leute so töricht wären!
Eine Woche später kamen die Peitschenträger erneut zum Raumschiff und trugen in großen Basttaschen zweihundert Reagenzgläser, gefüllt mit dem gewünschten Fruchtsaft. Der Wortführer hielt sorgfältig ein einzelnes Glas in der Hand und erklärte, wenn der große Chemiker von diesem Saft wolle, müsse er als Gegenwert 3/4 Gold und 1/4 Rubinfäden zahlen. Da dieser Saft tatsächlich der einzige war, der das Proferment phi in ausreichender Konzentration enthielt, ging man auf diesen Vorschlag ein. Es sah nämlich nicht so aus, als ob es möglich sein würde, auf Ne Par eine Destillation zu errichten.
Am dritten Tag der Woche, die das Raumschiff wartend am Strand unter der Siedlung Zaina gestanden hatte, ereignete sich ein höchst merkwürdiger Überfall auf die Siedlung, der zwar von den Siedlern mit Leichtigkeit abgeschlagen wurde, der aber den Kommandanten sehr nachdenklich stimmte und ihm zeigte, dass die Veränderung, die sich in den Menschen auf New Paris vollzogen hatte, wesentlich tief greifender war, als man hatte vermuten können. Wenn der Kommandant bisher geglaubt hatte, in den Anhängern des Obersten Mathematikers eine obskure Sekte vor sich zu haben, so musste er jetzt einsehen, dass diese Mathematiker in dem allgemeinen Wahnsinn auf New Paris geradezu einen Hort der Vernunft darstellten.
Am besagten dritten Tag ihres Kontaktes mit den Mathematikern wurde der Kommandant kurz vor Mitternacht durch Interkom geweckt und in den Kommandoraum gerufen. Als er verschlafen und unwirsch eintrat, war der Raum erfüllt von den unheimlichen nächtlichen Geräuschen des Planeten. Die Galerie der Televisionsschirme war auf den Infrarotbereich geschaltet und, da Infrarotscheinwerfer das Gelände in weitem Umkreis ausleuchteten, strahlten die Fernsehbilder hell und scharf.
Vom Horizont her sah man eine schier unübersehbare Menschenmenge auf die Hügel von Zaina zuströmen. Soweit es sich aus der Entfernung erkennen ließ, waren die Menschen nackt, und sie rannten in einem seltsam unbeholfenen Galopp, als hätten sie Bewegungsstörungen und seien ihres Geistes nicht mehr mächtig. Einige trugen Bälle in den
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