Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Buch liegen gelassen hatte, das sie zu Ende lesen wollte. Sie ging die Gangway hinauf und betrat das Schiff. Das Deck lag verlassen. Robert hatte davon gesprochen, dass er der Crew freigeben wollte, und so ging sie den Niedergang hinunter unter Deck.
Roberts und ihre Kabine lagen nebeneinander und waren durch eine Tür miteinander verbunden. Die Tür stand offen, deswegen hörte sie die Laute, die aus Roberts Kabine drangen – ein qualvolles, keuchendes Schluchzen. Sie war zur Tür geeilt, ehe sie die Laute eingeordnet hatte.
Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie zurückschrecken: Robert kauerte nackt auf dem Bett, während Otto ihn von hinten mit einem Dildo bearbeitete und dabei offenbar so heftig zustieß, dass Robert vor Schmerz aufschrie.
Es stand nicht zu befürchten, dass sie entdeckt wurde, denn die beiden hatten nur Augen für das, was sie miteinander trieben. Trotzdem trat sie sofort zurück und eilte zurück an Deck. Wie konnte Robert sich nur so behandeln lassen? Da es so rasch auf die freudige Wiederentdeckung ihrer eigenen Sexualität gefolgt war, kam ihr dieses Schauspiel besonders brutal und abstoßend vor.
Irgendwie hatte sie angenommen, Männer wünschten sich bei ihrem Liebesspiel dieselbe Zärtlichkeit und gegenseitige Rücksichtnahme, auf die sie solchen Wert legte. Es war kaum vorstellbar, dass Robert mit seinem Charme, seiner Eleganz, seinem guten Aussehen und seinem freundlichen Naturell eine sexuelle Beziehung einging, in der er grausam behandelt und erniedrigt wurde. Allein die Vorstellung tat ihr weh. Zwar brachte sie ihm keine erotischen Gefühle mehr entgegen, doch sie liebte ihn mit zärtlicher Fürsorglichkeit.
Otto habe sich verändert, hatte Robert behauptet, als Amber ihn gebeten hatte, sich vorzusehen und Ottos früheres Verhalten nicht zu vergessen. Sie war geneigt gewesen, Robert zuzustimmen. Während ihres Aufenthalts in Südfrankreich hatte sein Verhalten Robert gegenüber in der Öffentlichkeit in nichts auf die Brutalität hingedeutet, deren Zeugin sie eben geworden war
Und Robert war weder gefesselt noch irgendwo festgebunden gewesen, was ja wohl bedeutete, dass er sich Ottos Misshandlungen freiwillig unterwarf.
Amber stand an Deck der Jacht im warmen Sonnenschein und schauderte; sie dachte an Henrys gewalttätigen Übergriff. Kalter Schweiß stand ihr auf der Haut, und sie fröstelte. Während sie unsicher die Gangway hinuntertaumelte, erfasste sie ein heftiger Schwindel, als könnte sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
»Amber, geht es dir gut?«
»Jean-Philippe.«
Er hatte sie vom Hafen aus gesehen, wo er in einer schattigen Bar bei einem Glas Pernod gesessen und entspannt hatte, nachdem er die letzten vier Tage mit einer bis dato unbekannten Intensität und Besessenheit gemalt hatte. Irene war fuchsteufelswild gewesen, als er nach vier Tagen Abwesenheit zurückgekehrt war, und hatte angedroht, ihn hinauszuwerfen. Das würde sie natürlich nicht tun, doch diesmal hatte er die Zeit nicht wie sonst mit einer anderen Frau verbracht. Nachdem er Amber verlassen hatte, war er direkt nach Mougins gefahren und hatte einen seiner Freunde dort gebeten, sein Atelier benutzen zu dürfen, und dann hatte er gearbeitet, als wäre ihm Gevatter Tod höchstpersönlich auf den Fersen.
Die Tochter des Seidenhändlers hatte das väterliche Gewerbe inzwischen erobert, war Geliebte und Meisterin der Seide geworden. Keine war ohne die andere vollkommen, doch gemeinsam erschufen sie eine Aura machtvoller Sinnlichkeit. Er hatte sie von schimmerndem goldenem Licht umgeben gemalt, das durch ein Fenster hinter ihr hereinströmte, ihre Schönheit zum Leuchten brachte und den bernsteinfarbenen Stoff über ihrem Herzen streichelte. Gleichzeitig strahlte Licht aus ihrem Herzen und goss seinen Zauber über den Stoff. Während sie durch die Reinheit und Schönheit ihres Herzens auf die bernsteinfarbene Seide blickte und sie zum Leuchten brachte, lauerte im Schatten eine düstere Gestalt. Dort, wo ihr Blick auf den Seidenstoff traf, wirkte er leblos, matt und stumpf.
Nur ein menschliches Herz, das zu lieben verstand, konnte die Seide erstrahlen lassen und zum Leben erwecken.
Dies war das beste Bild, das er jemals gemalt hatte. Besser noch als seine geliebte Tochter des Seidenhändlers .
»Was ist los?«, fragte er Amber.
»Nichts«, begann sie und unterbrach sich dann. »Robert ist mit Otto auf der Jacht.«
Sie wusste nicht, warum sie es Jean-Philippe gegenüber erwähnte, doch seine
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