Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
hatte den Bahnhof noch nie so überfüllt erlebt – Männer in Uniform, Familien mit Kindern, Frauen wie sie, alle geschäftig und sich des Kriegs bewusst. In dem Augenblick, da Amber den Bahnhof verließ, wurde ihr klar, dass es praktisch unmöglich war, ein Taxi zu bekommen.
»Hier war’s noch nie so voll«, brummte ein anderer Reisender. »Das liegt natürlich daran, dass es ein langes Wochenende ist und viele Soldaten ein paar Tage freibekommen haben.«
Sie musste zu Fuß zur Anwaltskanzlei gehen.
Die Straßen waren fast so belebt wie der Bahnhof, und als sie endlich am Leicester Square ankam, staunte sie über die langen Schlangen vor den Kinos. In der Shaftesbury Avenue war es genauso schlimm, vor allen Kinos hatten sich Schlangen gebildet, und die Leute schlenderten auf der Straße herum; Männer in Uniform standen an, entweder in Gruppen oder mit einer Frau an ihrer Seite, die sie eng umschlungen hielten.
»Es tut mir leid, dass ich zu spät komme«, entschuldigte sie sich bei Mr Melrose, als sie endlich in der Kanzlei anlangte, nachdem sie sowohl den Menschenmengen als auch den Sandsäcken ausgewichen war, die allmählich grün wurden und an manchen Stellen aufplatzten. »Ich musste von Euston aus zu Fuß gehen, in der Stadt ist schier die Hölle los.«
»Ja, nicht wahr? Ich habe heute Morgen gehört, dass die Regierung von Blackpool aus Sonderzüge eingesetzt hat, um die Beamten, deren Ministerien dorthin verlegt wurden, über das Osterwochenende zurück in die Stadt zu bringen.«
Die Sekretärin, die Amber den Mantel abgenommen hatte, kam mit einem Teetablett herein, und Amber musste warten, bis sie jedem eine Tasse Tee eingeschenkt hatte und gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor Mr Melrose mit ihr die Dokumente besprach, die zu unterzeichnen er sie hergebeten hatte.
»Ich fürchte, es hat eine neue Entwicklung gegeben«, erklärte er ihr, »und es war zu spät, um mich noch mit Ihnen in Verbindung zu setzen, um unseren Termin abzusagen.«
»Was für eine neue Entwicklung?«
»Nach dem Tod Ihres Mannes habe ich natürlich die normalen Nachforschungen in Gang gesetzt, um in Erfahrung zu bringen, ob es einen legitimen Erben der Herzogswürde gibt.«
»Ja, natürlich.«
»Bis diese Woche bin ich davon ausgegangen, dass es keinen gibt. Doch jetzt sind mir Informationen zugegangen, dass der Großonkel Ihres verstorbenen Mannes, Drogo, Lord Iverhulme, der von seinem Vater nach Australien geschickt wurde, womöglich einen Enkelsohn hat, der, falls er tatsächlich existiert, natürlich der neue Herzog sein wird.«
»Ich habe gewusst, dass Robert einen Großonkel hat, der in Ungnade nach Australien geschickt wurde, doch Robert hat immer gesagt, er habe nie geheiratet und sei jung gestorben.«
»Ja, in der Tat, und deswegen muss die Sache sorgfältig untersucht werden. Die Tatsache, dass wir uns im Krieg befinden, macht das natürlich noch schwieriger. Doch solange die Sache nicht geklärt ist, wäre es nicht korrekt, wenn ich den Verkauf irgendwelcher Vermögenswerte erlauben würde, die zur Herzogswürde gehören, um Erbschaftssteuern zu begleichen. Ich habe die Steuerbehörde entsprechend informiert, und sie war einverstanden, dass wir die Dinge im Augenblick belassen, wie sie sind, bis die Situation gründlich erforscht worden ist. Die Tatsache, dass es womöglich einen Erben gibt, hat natürlich keinerlei Auswirkungen auf den Treuhandfonds für Ihre Tochter oder auf Ihre Erbschaft.«
Der Anwalt wollte sie zweifellos beruhigen, indem er ihr versicherte, dass Emeralds Treuhandfonds nicht in Gefahr war, doch in Wirklichkeit wäre es ihr viel lieber gewesen, wenn ihre Tochter keine so große Erbschaft bekommen hätte … Es war viel zu viel und konnte ihr in Ambers Augen alle möglichen Probleme machen.
Als sie schließlich das Ritz betrat, war Amber müde, hungrig und ziemlich erschöpft.
Es war ein Schock, zu sehen, wie hektisch es in dem Hotel zuging, an der Rezeption wartete eine Schlange, und vom vertrauten Personal war niemand zu sehen. Sie hatte fast den Eindruck, ein ganzes Jahrzehnt nicht mehr in London gewesen zu sein statt nur fünf Monate. War die Stadt schon immer so rührig und lärmend gewesen, oder hatte sie sich in eine Landmaus verwandelt?
Als sie endlich an der Rezeption stand, musste sie die Stimme heben, um die Aufmerksamkeit der Rezeptionistin zu erlangen, weil eine Gruppe uniformierter Männer in der Nähe sich laut lachend unterhielt. Einer
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