Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
schien eine besonders hohe Meinung von sich zu haben, wie Amber auffiel, denn er wandte sich ihr zu und warf ihr einen verwegenen Blick zu.
Amber achtete nicht auf ihn und nannte der geplagten Empfangsdame ihren Namen.
»Tut mir leid«, sagte die junge Frau, nachdem sie das Reservierungsbuch durchgesehen hatte, »aber wir haben hier keine Reservierung für Sie, und außerdem vermieten wir normalerweise keine Zimmer an alleinstehende Damen, wir geben den Uniformierten den Vorzug.«
Amber hörte ärgerliches Murmeln aus der Schlange hinter sich. Ihr Gesicht brannte, doch weniger aus Verlegenheit denn aus Zorn.
»Ich möchte den Direktor sprechen«, erklärte sie der Empfangsdame.
»Er ist krank, und wenn Sie den stellvertretenden Direktor sprechen möchten, müssen Sie genauso warten wie all die anderen, die ihn sprechen möchten.«
»Kein Platz in der Herberge, Süße? Ach, macht nichts, ich hab reichlich Platz in meinem Zimmer und ein hübsches großes Bett. Was meinst du?«
Es war der Offizier, der sie vorhin so dreist gemustert hatte. Jetzt beugte er sich betrunken über sie.
»Komm schon, sieh mich nicht so an. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum eine Frau allein in ein Hotel kommt und so tut, als hätte sie ein Zimmer reserviert. Das weiß doch jeder.«
»Verzeihen Sie bitte.« Ambers Stimme war eisig vor Verachtung und Widerwillen. Sie war gezwungen, sich an ihm vorbeizuquetschen, denn er machte keine Anstalten, sich zu rühren, sondern trat vielmehr noch näher, bis sein Oberschenkel sich an sie drückte und sie deutlich seine Erektion spürte.
Übelkeit und Zorn schnürten ihr den Hals zu. Es war ja schön und gut, wenn die Leute sagten, Soldaten müssten Dampf ablassen, wenn sie nach Hause auf Urlaub kamen, doch sicher nicht in dem Maße, dass sie sich derart benahmen? Er war schließlich kein junger Kerl mehr, er war Mitte dreißig und obendrein Offizier.
»Amber, meine Liebe.«
Bei dem vertrauten Klang von Emerald Cunards Stimme drehte Amber sich erleichtert auf dem Absatz um. Sie wurde von Emerald begeistert in die Arme genommen.
»Was für eine wunderbare Überraschung.Wie geht es Ihnen?«
»Ich bin ziemlich wütend und außerdem auf dem Sprung, weil ich mir eine Parkbank suchen muss, auf der ich die Nacht verbringen kann«, sagte Amber erbittert und erklärte ihr dann die Sache mit der verpatzten Reservierung.
»Sie können bei mir wohnen. Ich habe eine Suite und ein freies Schlafzimmer. Kommen Sie, ich nehme Sie gleich mit hoch.«
Dankbar folgte Amber ihrer Retterin.
»… und natürlich sind alle weg, und man sieht nur noch selten ein bekanntes Gesicht. Ich vermisse mein hübsches Haus, Amber. Genau wie Sie Robert, den armen Schatz, vermissen müssen.«
Sie saßen in der Cocktailbar, bevor sie zum Abendessen in den Speisesaal gingen, und Amber musste schwer schlucken, als Emerald Roberts Tod mit dem Verlust ihres Hauses am Grosvenor Square verglich. Robert hätte die Bemerkung gefallen. Er hatte immer einen trockenen Sinn für Humor besessen.
»Margot Oxford klammert sich immer noch an den Bedford Square, und natürlich ist Loelia Westminster noch hier und der liebe Chips Channon.«
Während Emerald die Namen ihrer Bekannten und Freunde herunterratterte, die in London geblieben waren oder auch nicht, kam Amber zu dem Schluss, dass sie sich freute, nach Macclesfield zurückzukehren. In der Gesellschaft hatte sich eine gewisse Brüchigkeit breitgemacht, eine völlige Gleichgültigkeit gegenüber anderen. War das schon immer so gewesen, und es war ihr nur nie aufgefallen?
Da ihre Rückfahrkarte erst auf Samstag gebucht war, musste sie den Freitag noch in London verbringen. Sie nickte und hörte Emeralds Geplauder weiter zu.
Wenigstens ist die Menschenmenge nicht mehr so dicht wie am Morgen, tröstete Amber sich, als sie in Richtung St. Paul’s ging. Sie wusste nicht recht, warum sie diesen Weg eingeschlagen hatte, außer dass Karfreitag war. Emerald hatte ihr erzählt, dass sie am Ostersonntag in die Brompton Oratory zur Messe gehen würde, Londons eleganteste Kirche, doch dann war Amber natürlich schon wieder in Macclesfield.
Es war noch früh. Diejenigen, die den Karfreitagsgottesdienst in St. Paul’s besuchen wollten, waren noch nicht da, doch die Türen standen offen, und Amber sah, dass sie nicht die Einzige war, die ihre Schritte hineinlenkte.
Es war ihr ein Rätsel, dass so ein prächtiges Gebäude so mühelos Frieden und Demut atmete: vielleicht ein Widerspruch
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