Der Glanz der Welt
in die Nacht, nein, er stoppte rechtzeitig und flüsterte nur leise vor sich hin: „Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze.“ Und dann fügte er noch leiser hinzu: „Wallensteins Lager, Prolog.“
Mit langsamen Schritten ging er in Richtung U-Bahn. Die Straßen waren seltsam menschenleer, und das schon seit Tagen. Hinter ihm versank das Giacomos im Dunkel der Stadt, und vor ihm lagen im Dunkel der Zukunft all die ungeklärten Fälle. Er hatte keine Angst vor dieser Zukunft. Die Niedertracht so vieler Menschen sicherte ihm Arbeit und Brot. Die Toten hielten ihn am Leben. Er hätte nichts dagegen gehabt, in einer etwas besseren Welt zu leben. Aber er hatte sich diese Welt nicht ausgesucht. Manchmal, in Nächten wie dieser, träumte er davon, die Welt ein wenig verbessern zu können. Aber letzten Endes wäre es schon ein Erfolg, dazu beigetragen zu haben, dass die Welt nicht noch schlechter wurde. Es war kalt. Pirchmoser zupfte den Schal zurecht, und sein Magen meldete sich kurz zu Wort: Der Enzian stieß ihm auf. Das war erfahrungsgemäß ein gutes Zeichen. Pirchmoser liebte gute Zeichen. Besonders in den dunkleren Nächten. Denn auch Kieberern flicht die Nachtwelt keine Kränze. Und das steht nicht beim Schiller. Das steht auf der ersten Seite von Pirchmosers Notizbuch.
7. KAPITEL | Pirchmoser hat ein Problem
Du wachst auf und bist einsam. Wirre Gedanken im Kopf, der Magen knurrt. Das Herz auch. Die Welt steckt voller Überraschungen. Du hast keine Telefonnummer von ihr und keine Ahnung, wer harmlose Schauspieler umbringen sollte. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch zum Mittagsbuffet ins Giacomos. Eile zählt nicht zu deinen Tugenden. Eile ist genau genommen eine ziemlich schlechte Angewohnheit, die auch durch die beschissene Kürze des Lebens nicht zu rechtfertigen ist. Das Leben rechtfertigt gar nichts außer sich selbst. Hunger stimmt dich immer philosophisch. War Nitzsche ein Hungriger oder ein Narr? Hegel? Fichte? Sartre? Du bist ein hungriger Narr ohne Telefonnummer. Gut, du weißt, in welchem Hotel sie abgestiegen ist. Aber Hotels kann man wechseln. Mindestens so schnell wie Unterhosen. Und ebenso oft. Wie oft hat Hegel seine Unterhosen gewechselt? Unvorstellbar, dass jemand, der die „Phänomenologie des Geistes“ geschrieben hat, seine Zeit mit den gleichen banalen Grundtätigkeiten des Lebens vergeuden musste wie du. Aber Hegel wusste nichts vom Leben. Das Wahre ist das Ganze, so ein Unsinn. Das Wahre sind die Halbheiten, zu denen das Leben uns zwingt. So wie der Hunger dich jetzt zwingt, eine Entscheidung zu treffen. Weiterschlafen und am späteren Nachmittag altbackene Kipferln bekommen, oder raus aus dem Bett und ein ordentliches Frühstück im Giacomos genießen. Ein Mittagsbuffet ist kein Frühstück, dann halt ein Spätstück. Halbheiten sind das wahre Leben. Nur in der Liebe, da giltdas Ganze. Und beim Töten. Mörder und Liebende gehen immer aufs Ganze. Da du kein Blut sehen kannst, hat es zum Mörder niemals gereicht. Mörder produzieren Blut, Liebende Tränen. Auch Tränen liegen dir nicht, darum ist aus deinen Lieben und Liebschaften noch nie was geworden. Halbheiten halt. Das Wahre ist die Hälfte. Aber wessen Hälfte ist wahr? Die der Täter oder die der Opfer? Die der Liebenden oder die der Geliebten? Und teilen Liebespaare irgendeine Halbwahrheit? Dann bleibt für jeden ein Viertel. Mathematik ist kompliziert wie die Liebe. Blödsinn, Liebe ist doch ganz einfach. Du musst nur rechtzeitig raus aus dem Bett. Nichts wie zu ihrem Hotel, bevor sie frühstücken kann. Vielleicht kommt sie mit ins Giacomos. Wie kommst du auf die Idee, dass sie ebenso spät aufsteht wie du? Es ist eben so eine Idee. Weil das Halbe das Ganze ist. Auch wenn die Mathematik das niemals beweisen wird. Aber das Leben muss als Nachweis genügen.
Raus aus dem Bett, Zahnbürste und Dusche, das schnelle Programm. Wo doch Eile eine Untugend ist. Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit? Das hast du noch nie wirklich verstanden. Der Magen knurrt, und es stößt dir unverdaute Philosophie auf. Du stehst vor ihrem Hotel und willst umdrehen. Die Rezeption liegt im Dunkeln. Irgendein Sparmeister hat wohl das Licht abgedreht, ein Controller die Rendite erhöht, um nullkommanullacht Promille. Was für ein verpfuschtes Leben diese Zahlenfüchse doch führen. Renditejäger! Selbst noch der Jäger im Wald ist sympathischer. Wildschweine kann man wenigstens essen. Die alten Ägypter haben gewusst, warum sie
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