Der Glanz der Welt
Zukunft des Theaters träumen kann. Der Vereinszweck liegt auf der Hand: Überwindung des Regietheaters. Daraus ergeben sich ganz automatisch unsere Pflichten: Wo immer es geht, treten wir gegen die Auswüchse dieses Regietheaters auf. Wir schreiben Leserbriefe an die Zeitungen, melden uns bei Diskussionen nach verhunzenden Theatervorstellungen zu Wort, versuchen, im zuständigen Ministerium zu intervenieren, wenn wieder einmal ein besonders berüchtigter Stückezerstörer irgendwo im Land eine Direktion bekommen soll. Dabei sprechen wir uns natürlich ab, damit die volle Kraft unserer Mitglieder gebündelt wird und entsprechend ihre Wirkung entfalten kann. Dann gibt es noch eine ganz besondere Vereinsregel, die wichtigste überhaupt, deren Missachtung automatisch den Ausschluss nach sich zieht. Kein Vereinsmitglied darf nämlich in der Inszenierung eines Regisseurs mitspielen, dessen Wirken sich dem Regietheater und der Stückezertrümmerung widmet.“
„Und wie geht das?“, fragte Pirchmoser. „Weiß man das einfach, bei wem man nicht spielen darf? Wie darf ich mir das vorstellen?“
„Das ist einfacher, als man glauben würde. Wir führen vereinsintern eine Liste der gesperrten Regisseure, wir nennen sie ,Listenregisseure‘. Jedes Mitglied kann jederzeit beantragen, dass bestimmte Regisseure oder auch Dramaturgen auf diese Liste gesetzt werden. Darüber wird dann beim nächsten Monatstreffen diskutiert und abgestimmt, wobei eine einfache Mehrheit der Stimmen genügt. Einmal im Jahr,bei der Generalversammlung, wird die ganze Liste Name für Name überprüft, erneut diskutiert und beschlossen.“
„Also so was wie Listenhunde bei den Kampfhunden, nicht wahr? Gibt es auf dieser Liste eine große Fluktuation?“, setzte Pirchmoser nach.
„Kann man so nicht behaupten“, antwortete Mühsal, „sagen wir: Man kommt relativ leicht auf diese Liste rauf, aber kaum mehr herunter. Wer einmal begonnen hat, Stücke zu verpfuschen, hört nicht mehr damit auf. Dessen Theaterleben ist verpfuscht. Das sind ja meist ahnungslose Dodeln, wenn ich so sagen darf, warum sollte denen plötzlich der wahre Goethe einschießen? Wenn ich recht überlege, die Liste wird immer nur länger. Hin und wieder kommt es natürlich vor, dass ein Listenregisseur stirbt, der wird dann klarerweise von der Liste gestrichen. Ohne Beschluss. Aus dem Jenseits wird er ja wohl nicht mehr Regie führen.“
„Und ist schon einmal ein Vereinsmitglied wegen eines verbotenen Engagements ausgeschlossen worden?“, wollte Pirchmoser wissen.
„Ich habe zwar keine Ahnung, was das mit den Morden zu tun haben soll“, sagte Mühsal, „aber ich muss diese Frage verneinen. Alle Mitglieder halten sich penibel an unseren Schwur.“
„Ich frage ja nur deshalb so genau, weil ich mir ein Bild darüber machen will, mit wem ich es zu tun habe, wer Ihre Feinde sein könnten. Immerhin sind zwei Ihrer Mitglieder innerhalb weniger Tage ermordet worden. Wenn ich also auch noch fragen darf, um welchen Schwur es sich hier handelt.“ Pirchmoser lehnte sich zurück.
„Es ist unser Rütlischwur, wir haben ihn von Schiller aus ,Wilhelm Tell‘ übernommen und abgeändert“, sagte Mühsal.
„Widerspricht eine solche Änderung nicht Ihren Prinzipien?“, fragte Pirchmoser erstaunt.
„Nein, keineswegs“, mischte Gans sich ein, „erstens handelt es sich bei der Ablegung des Schwurs um keine Theateraufführung, und zweitens heiligt in diesem Fall der Zweck das Mittel.“
„Verstehe“, sagte Pirchmoser, „und wie lautet dieser Schwur?“
Gans stand auf, warf sich in Pose, indem er den Kopf nach oben reckte, die linke Hand zur Faust geballt ans Herz drückte und die rechte Hand zum Schwur erhob. Dann begann er zu rezitieren:
„Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not auftreten und Gefahr.
Wir wollen spielen frei, so wie die Väter einst,
Eher den Tod, als unter miesen Regisseuren dienen,
Wir wollen bauen einzig auf den Text original,
Und uns nicht fürchten vor den Flausen der Regie.“
Gans schlug sich mit der Faust mehrmals kräftig gegen die Brust, alle außer Pirchmoser standen ebenfalls auf und spendeten Standing Ovations.
Gans hob nochmals an:
„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?“
Alle setzten sich nieder, nur Luzia Winter blieb stehen und begann zu singen:
„Das Schicksal setzt den Hobel an
und hobelt’s beide gleich.“
„Wir haben alle unsere kleinen Eigenheiten“,
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