Der Glanz der Welt
„Bereicherung“ heißt, gibt es nur mehr eine einzige Rechtssicherheit: die Unschuldsvermutung. Schon 1945 haben wir Hitler den Deutschen und die Unschuldsvermutung uns selbst umgehängt. Man könnte sagen: Die Unschuldsvermutung ist der letzte Halt dieser Gesellschaft, so wie der Strick der letzte Halt des Gehenkten ist. Die Unschuldslämmer sind unter uns und fressen die Wiesen kahl. Aber sie kommen ungeschoren davon. Sie werden niemals zur Schlachtbank getrieben. Denn niemand nennt ihre Namen. Und ihre Wolle ist weiß. Und sie blöken nicht, sondern sie sagen immer den einen, gleichen Satz auf: „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen.“ Der Satz tritt in vielen Verkleidungen auf: „Es war alles legal.“ Oder: „Meine Unschuld wird sich erweisen.“ Sowie: „Wir haben nichts zu verbergen.“ Von wegen! Je tiefer das Schaf im Sumpf versinkt, umso größer wird zwangsläufig die Unschuldsvermutung. Je weniger Namen wir nennen, desto fetter werden die Unschuldslämmer, die sich sattfressen auf Weiden, die ihnen nicht gehören.
Solange wir keineNamen nennen, regiert die Unschuldsvermutung unser Land. Also wird der Adler landen und Namen nennen. Das klingt pathetisch, ist aber ein Wagnis. Der Adler ist eine bedrohte Tierart, vor allem weil seine scharfen Augen fast alles entdecken – und weil er den Schnabel nicht halten kann. Denn für den Adler gilt die Schuldvermutung. Stopft dem Adler den Schnabel, klebt ihm die Augen zu und reißt ihm die Flügel aus. Die Lämmer mit dem Wolfsgebiss verteidigen die Unschuldsvermutung bis zum letzten Atemzug, bis zur letzten Lüge.
Also nennen wir Namen. In seiner letzten Kolumne erzählte der Adler der Leserschaft von einem großen Komplott. Die Unschuldsvermuteten verzogen sich in ihre Löcher und schwiegen. Nach der Nennung der Namen werden sie nicht mehr schweigen können. Sie werden reden müssen, um den Adler zum Schweigen zu bringen. So einfach ist das. Lass ein paar Namen fallen, und das Imperium fällt mit ihnen. Das hofft der Adler und nennt nun die Namen.
Der ehemalige Finanzminister Grapschmann ist unschuldiger Teil der Verschwörung. Er wusste in aller Unschuld von den riskanten Geschäften der Werk-Bank, hat die Kontrolle unabsichtlich verhindert und damit ganz schuldlos die Pleite ermöglicht. Er wusste, dass der Spekulant Schmock treuherzig treuhändisch die Bank ausnimmt. Die angeblich verspekulierten Milliarden hat der Bankier Schnittling unschuldig in seinen Tresoren versteckt. Die wahre Unschuld verbirgt ihr Gesicht vor der Öffentlichkeit. Die Regierung hat das in aller Unschuld gebilligt, weil ein billiger Wahlsieg in Reichweite schien. Denn unschuldig sind sie alle, die Nehmer, die Geber, die Heuchler und die Korruptionisten. Unsere angeblich so hehren nationalen Heiligtümer sind dem Kommerz geopfert worden: der Schilling und die Neutralität, der Inländer-Rum und die Marmelade. Geblieben ist uns als letztes, einigendesBand die Unschuldsvermutung. Sie flattert fröhlich im Wind, baumelt von allen Regierungsgebäuden und wird im Pass eingetragen. Und jetzt können all die Unschuldslämmer mich klagen: wegen Ehrenbeleidigung oder Verleumdung. Was auch immer ihnen einfallen mag. Aber es wird ihnen nichts bringen, denn auch ich trage die Unschuldsvermutung vor mir her wie eine Monstranz. All die Unschuldigen können mich mal! Aber bitte nicht drängeln!
Pirchmoser atmete tief durch, Himmel seufzte. Chiara schmiegte sich eng an mich.
„Do follt dem Oachkatzl da Schwoaf o“, sagte Pirchmoser, „das gibt Ärger. Großen Ärger. Für dich!“
„Für Friedrich Adler“, lachte ich, „und das Eichkatzerl wird seinen Schwanz schon nicht verlieren vor Schreck.“
„Hält il cardinale das durch?“, fragte Himmel.
„Ich denke ja“, sagte ich, „ja, sicher, ganz sicher sogar. Er ist ein Mann der Ewigkeit und dafür gebaut, Stürme zu überstehen.“
Pirchmoser wiederholte: „Das gibt Ärger, das gibt großen Ärger.“ Er stand auf und nahm mir die Zeitung aus der Hand, faltete sie so zusammen, dass man genau die Überschrift meines Kommentars lesen konnte. Dann ging er mit weit ausholenden Schritten hinüber ins Grapschmann-Eck. Er baute sich vor Grapschmann auf und knallte die Zeitung mit der Überschrift nach oben auf die Tischplatte: „Wünsche schönen Abend noch den Herrschaften und viel Vergnügen bei der Lektüre!“ Dann drehte er sich um und kam zurück zu unserem Tisch.
„Jetzt haben die Kerle was zum Nachdenken“, sagte
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