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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Amon
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begann andächtig und ganz langsam mit sicherer Hand einzuschenken. Die Gespräche waren verstummt, die Gläser gefüllt. Wir schnupperten konzentriert. Giuseppe stellte uns einen neuen Teller mit gebratenen Polentascheiben auf den Tisch, hobel, hobel, die Trüffelspäne fielen wie Schnee. Der Duft der Alba-Trüffel, übrigens ein durchaus gewöhnungsbedürftiger Geruch, so ähnlich wie einst der des giftigen Stadtgases,schwebte wie der Novembernebel in einer piemontesischen Talniederung über dem Tisch. Cincin. Wir tranken bedächtig einen ersten kleinen Schluck, nachdem wir die Gläser ausgiebig geschwenkt hatten, damit der Wein ein wenig zusätzliche Luft holen konnte. Wir nahmen die Polentascheiben mit der Hand von der Platte, auf der sie aufgetragen worden waren.
    „Ist es kein Barolo ohne Essen, und ist keine Trüffel ohne Barolo“, sagte Giuseppe.
    „Nicht nur Fisch muss schwimmen“, sagte der Kommerzialrat.
    „Fisch braucht den Wein zum Schwimmen im Magen“, gab auch ich meinen Senf dazu, „Trüffel muss auf der Zunge schwimmen, auf dem letzten Abgang vom Barolo.“
    Alle nickten. Chiara stibitzte mir eine Trüffelscheibe von meiner Polentaschnitte.
    Cincin. Hobel, hobel. Schlürf, schlürf. Man war sehr reduziert in solchen Momenten höchster Verfeinerung. Wir sahen wohl alle sehr glücklich aus in diesem Moment. Giuseppe strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte natürlich sechs Gläser gebracht. Bei einem Monfortino würde er immer mittrinken, und sei es zum Frühstück.
    Wir waren so konzentriert gewesen, dass wir gar nicht bemerkt hatten, dass sich die Grapschmann-Ecke inzwischen gänzlich geleert hatte. Auch Schnittling und der Baron waren inzwischen gegangen, und wir hatten ihren Abgang übersehen.
    „Haben die überhaupt bezahlt?“, fragte ich Giuseppe und deutete ins Grapschmann-Eck.
    „Si, si“, sagte er, „bei mir er zahlt immer, so wie beim Pirchmoser. Bei mir die Zeche, beim commissario die Kaution. Umgekehrt, madre di dio, umgekehrt wär’s mir lieber, ich dieKaution und für den commissario die Zeche. Würde ich sofort aufhören, wäre ich nur mehr Gast.“
    „Giuseppe“, sagte der Kommerzialrat, „du wärst todunglücklich! In welches Lokal würdest du denn gehen?“
    „Ins Giacomos“, sagte Giuseppe, „wäre ich Patron und Gast gleichzeitig.“
    Wir hoben erneut unsere Gläser und schlugen sie sanft gegeneinander. Cincin.
    Der Abend neigte sich seinem Ende zu. Du warst stolz auf deinen Kommentar. Wirkung? Was weiß man. Steter Tropfen höhlt angeblich den Stein. Aber diese Leute waren nicht aus Stein, die waren aus dem härtesten Material des Universums gemeißelt: aus einer kalten Seele.
    Chiara, der Nebel, du. Die Stadt lag still da, so still, wie nur in ein paar kurzen Momenten im Spätherbst, bevor lärmend und hektisch die vorweihnachtliche Stille ausbrach. Dann konnte man nur mehr flüchten. Vor den Menschen, den Sonderangeboten, dem Gestank von billigem Punsch, der sich in der Innenstadt ausbreiten würde. Man musste flüchten und Geldbörsel und Kreditkarte fest umklammern. Aber jetzt, kurz davor, umklammertest du Chiara, oder sie dich oder ihr beide einander. Aus der Ferne ließ sich das schwer erkennen. Du schliefst jetzt immer bei ihr im Hotel. Weil es praktisch ist, sagte die Vernunft. Weil du sie liebst, sagte irgendwas Unbestimmtes tief in dir drin. Aber du misstraust ja den großen Worten. Sie täuschen und tarnen wie die Gefühle. Man weiß schließlich nichts – nichts über sich selbst, nichts über den anderen. Sprach etwas dagegen? Aber was sprach dafür? Am Ende aller Fragen stehen keine Antworten. Am Ende aller Fragen findest du dich wieder in einem halbdunklen Zimmer.Sie liebt Allure, hat sie gesagt. Auf den Lippen, auf der Haut. Und sie mag keine Marken. Du auch nicht. Aber wessen Leben ist schon perfekt? Die Lippensalbe der alten Sumerer, ein paar tausend Jahre vor Christus, die war noch markenfrei. Aber woher nehmen und nicht stehlen. Pfeif auf die Marke. „She’s always leavin’ me with lipstick traces“, singt Willie DeVille.
    Left shoe shuffle, right shoe muffle, sinking in the sand.
    Sie lag auf der Tuchent. Auf dich wartet niemand. Also, mach weiter. Auf dich wartet niemand.
    „Ich warte auf dich“, sagte Chiara. Sie sagte es leise, sehr leise. Hatte sie das Lippenrot nachgezogen? Nur ein Depp wehrt sich gegen das Unvermeidliche. Schalte das Sprachzentrum aus, es liefert nur Wörter, die alle schon kennen, die keiner mehr hören will,

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