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Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
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im Haus aufhielten. Sie nahm an, daß die beiden ebenso wie die Magd überstürzt geflohen waren, um Schutz im Dom oder in einer der Kirchen zu suchen.
    Thea wußte, daß jede Verzögerung ihr Leben bedrohte. Dennoch lief sie über die Straße und betrat das Haus. Sie stieg einige Stufen auf der Treppe zum ersten Stock hinauf, doch dann blieb sie stehen und schalt sich eine Idiotin.
    Ich muß verrückt sein,
dachte sie.
Dort draußen bricht ein Blutgericht über Magdeburg herein, und ich verschwende meine Zeit in dem verlassenen Haus eines Mannes, für den ich nur ein dunkler Fleck in seiner Vergangenheit bin.
    Sie machte auf der Treppe kehrt und wollte das Haus verlassen, als sie ein dumpfes Stöhnen aus dem Nebenraum vernahm. Zögerlich öffnete Thea die Tür und sah in der Werkstatt zwei Personen auf dem Boden liegen. Ihr Magen krampfte sich zusammen, nachdem sie erkannt hatte, daß es sich um Martin Fellinger und seine Frau handelte. Sophia Fellinger rührte sich nicht. Ihre Augen waren geöffnet, aber ohne Leben. Man hatte ihr die Unterkleider vom Leib gerissen und ihr den Rock über die Hüfte geschoben. Martin kauerte über ihr und preßte seinen Kopf auf ihre Brust.
    Thea hockte sich neben Martin und legte eine Hand auf seine Schulter. Langsam wandte er ihr sein Gesicht zu und schaute sie aus verweinten Augen an. Erkannte er sie überhaupt?
    Erst da bemerkte sie das Blut. Eine rote Spur reichte von der gegenüberliegenden Wand bis zu Martin. Sie betrachtete ihn genauer und entdeckte die Wunde an seinem rechten Unterbauch. An seinem Hemd konnte sie verbranntes Schießpulver riechen.
    »Martin«, sagte sie. Er schaute sie ausdruckslos an und erwiderte nichts. Bei dem vielen Blut, das er verloren hatte, mußte er dem Tod nahe sein.
    Thea beugte sich über Sophias Gesicht. An ihrem Mund befand sich Blut, und an ihrem Hinterkopf entdeckte sie eine Beule, groß wie ein Hühnerei. Wahrscheinlich war siemit einem stumpfen Gegenstand erschlagen worden. Thea hielt ein Ohr an Sophias Lippen und lauschte nach Atemzügen, doch sie konnte nichts hören. Auch einen Puls fühlte sie nicht. Martins Frau war tot, und die Art, wie ihre Schenkel auseinander gezwängt worden waren, verriet eindeutig, was mit ihr geschehen war.
    Thea war Sophia Fellinger nur einmal begegnet, aber sie hatte sie vom ersten Moment an gemocht. Der erniedrigende Tod dieser Frau schmerzte sie.
    Martins Finger strichen zärtlich über die Wangen seiner Frau. Mit brüchiger Stimme flüsterte er: »Sophia, sprich mit mir.«
    »Sie ist tot.« Thea erschienen diese Worte herzlos und hart, doch sie konnte nicht mit ansehen, wie Martin verzweifelt auf ein Lebenszeichen seiner Frau wartete.
    Sie erhob sich und überlegte, was sie tun sollte. Konnte sie Martin hier zurücklassen? Es wäre einfacher für sie gewesen, wenn sie ihn tot aufgefunden hätte. Sie hätte ihm und seiner Frau die Augen geschlossen und wäre des Weges gezogen.
    Aber Martin lebte und stellte sie vor eine schwere Entscheidung.
    Sie durfte sich von einem Sterbenden nicht länger aufhalten lassen. Jeden Augenblick konnten weitere Plünderer das Haus betreten, und dann würden auch Mantel und Hut sie nicht mehr retten. Man würde sie schänden wie Sophia Fellinger, ihr die Kehle durchschneiden und sie zu den anderen Leichen werfen.
    Langsam trat Thea zur Tür. Ihr Blick blieb auf Martin Fellinger gerichtet, der schluchzend das Haar seiner toten Frau streichelte.
    Sie sollte nun gehen und ihn zurücklassen.
    Thea schloß die Augen und wandte sich um. Sie mußte an eine Zeit denken, die lange zurücklag, eine Zeit, in der sie noch keine Hure gewesen war, sondern nur ein temperamentvollesMädchen, das davon geträumt hatte, eines Tages den Sohn des Glasmalers zu heiraten, dem sie bereits den Kopf verdreht hatte.
    Als sie zu Boden blickte, erkannte sie, daß sie inmitten eines Scherbenhaufens stand. Thea bückte sich und fuhr mit den Fingern über die bunten Glasfragmente, aus denen Martins wunderbares Panorama der Stadt Magdeburg bestanden hatte. Einem Impuls folgend, hob sie eine der Scherben auf und steckte sie in ihre Schurztasche.
    Sie konnte es nicht über sich bringen, Martin seinem Schicksal zu überlassen. Es war Irrsinn, aber sie würde ihn aus der Stadt schaffen. Doch wie sollte sie das fertigbringen? Er konnte sich in diesem Zustand kaum auf den Beinen halten.
    Thea schaute sich in der Werkstatt um. Zunächst entdeckte sie nichts, womit sie Martin hätte transportieren können, doch

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