Der Glasmaler und die Hure
er.
Mit letzter Kraft bewegte sich Thea auf das Ufer zu. Der Kahlköpfige kam zu ihr und half ihr, den bewußtlosen Martin aus dem Fluß zu schleppen.
Thea hustete und spuckte Wasser. Sie konnte es kaum begreifen, daß sie der Vernichtung der Stadt entkommen war und bemerkte nun erst die kleine Gruppe hinter dem Kahlköpfigen, denen Angst und Verzweiflung tief ins Gesicht geschrieben standen. Thea zählte neun Personen, darunter zwei Kinder.
»Lebt er?« Der Mann, der ihr geholfen hatte, hob Martins Kopf an.
Thea legte ein Ohr an Martins Brust und vernahm ein schwaches, aber beharrliches Pochen. »Er lebt«, bestätigte sie. »Aber er ist sehr schwach.«
»Auch du bist verletzt.« Der Kahlköpfige betrachtete besorgt Theas blutenden Arm. Sie berührte den Streifschuß und verzog das Gesicht.
»Ich bin Alfred.« Er erhob sich und blickte traurig auf den Rauch, der hinter den Bäumen in der Ferne gen Himmel stieg.
Einen Moment lang wurde es Thea schwindelig, und sie glaubte, die Besinnung zu verlieren. Sie holte tief Luft, und ihr Kopf wurde etwas klarer. Eine lähmende Müdigkeit, die jede Bewegung schwer machte, breitete sich in ihr aus. Sie legte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel, andem die unheilvollen Rauchwolken vorüberzogen. Selbst hier zeugte der trockene Brandgeruch noch vom schrecklichen Schicksal Magdeburgs. Ihre Hand tastete nach Martin. Plötzlich war sie unglaublich erleichtert darüber, daß er sich an ihrer Seite befand.
Thea kamen die Menschen in den Sinn, die in Magdeburg zurückgeblieben waren und die an diesen Tag den Tod fanden. Sie weinte, als sie an all die Frauen dachte, mit denen sie im Hurenhaus zusammengelebt hatte und von denen ihr einige ans Herz gewachsen waren. Auch der Verlust von Julius, der lange Zeit wie ein Bruder für sie gewesen war, bevor er zum Dieb wurde, war nur schwer zu ertragen.
Eine ganze Stadt – vernichtet an nur einem Tag. Tausende, die in wenigen Stunden den Tod fanden.
Kapitel 5
Bis zum Einbruch der Dämmerung war die Gruppe zwar auf mehr als dreißig Personen angewachsen, doch in Relation zu den unzähligen Leichen, die wie in einer bizarren Prozession in der Elbe an ihnen vorbeigetragen wurden, stellten sie nur ein elendes Häufchen dar.
Viele von ihnen weinten unablässig. Es wurde kaum gesprochen, und die meisten der blassen Gesichter waren von Todesangst gezeichnet. Nur Alfred schien sich seinen Tatendrang bewahrt zu haben. Unermüdlich hielt er sich in der Nähe des Ufers auf, versuchte im Fluß Leben auszumachen und organisierte die Versorgung der Verletzten.
Einige der Geretteten starben unmittelbar, nachdem man sie ans Ufer gezogen hatte. Alfred ließ die Toten zurück in die Elbe tragen, um den Überlebenden den Anblick der Leichen zu ersparen. Mehrere Male schon hatte er sich neben Thea gehockt und nach Martins Zustand gefragt. Thea vermutete, daß er darauf hoffte, daß die Schwächsten der Gruppe den Lebensatem aushauchten, bevor sie von hier aufbrachen.
Zum Glück war es ein warmer Tag. Thea zog sich und Martin bis auf die Unterkleider aus und legte die nassen Sachen zum Trocknen in die Sonne. Martin war sehr schwach, aber stets wenn sie nach seinem Herzschlag tastete, spürte sie das beharrliche Pochen unter ihrer Hand, das sie erleichtert aufatmen ließ. Für eine kurze Zeit war er sogar zur Besinnung gekommen und hatte die Augen geöffnet. Sie sprach ihn bei seinem Namen an, doch er reagierte nicht darauf und blieb abwesend. Dann ließ ihn die Erschöpfung wieder in einen tiefen Schlaf fallen.
»Bleibe bei mir«, flüsterte sie in Martins Ohr. »Ich habe mein Leben nicht aufs Spiel gesetzt, damit du an diesem jämmerlichen Ort stirbst.« Sie schmiegte sich eng an ihn und versuchte ihm ein wenig Wärme zu geben.
Ihre Wunde am Oberarm brannte schmerzhaft. Unter den Geretteten befand sich die Frau eines Apothekers, die Martins und auch Theas Wunde auswusch und ein Hemd in Streifen riß, um damit einen Verband anzulegen. Trotzdem benötigte Martin dringend die Hilfe eines Arztes. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich seine Wunde entzünden und ihm ein Fieber die letzte Kraft rauben würde.
Die Nacht brach herein. Thea verspürte ein Hungergefühl, aber es gab nichts zu essen für sie. Der letzte Überlebende war vor mehr als drei Stunden zu ihnen gestoßen, und die Dunkelheit machte es unmöglich, die schwachen Lebenszeichen im Fluß zu erkennen.
Thea begrüßte die Dunkelheit, die sich wie ein gnädiger Schleier über
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