Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glasmaler und die Hure

Der Glasmaler und die Hure

Titel: Der Glasmaler und die Hure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wilcke
Vom Netzwerk:
sah Martin kraftlos in Conrads Arme sinken und fühlte sich unter seiner bitteren Anschuldigung wie erstarrt.
     
    Ein Geräusch … eine Stimme weckte ihn. Martin richtete sich schlaftrunken auf und glaubte zunächst, er befände sich in seinem Haus in Magdeburg. Doch er lag nicht in seinem Bett, und auch Sophia war nicht in seiner Nähe. Das schale Mondlicht offenbarte ihm die Umgebung eines mit Plane überspannten Fuhrwerkes. Er kauerte zwischen Kisten, Truhen und Fässern auf einer kratzenden Strohmatte und war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Sophia? Wo war Sophia?
    Er erinnerte sich daran, daß Thea mit ihm gesprochen hatte. Ausgerechnet Thea, die ihn durch ihren unerwarteten Besuch in seinem Haus in Verlegenheit gestürzt hatte.
    Von draußen vernahm er nun wieder die Stimme. Leise, fast flüsternd. Er kroch auf den Ausstieg des Wagens zu und kletterte hinunter. In der Umgebung machte er mehrere Feuer und die Umrisse vieler anderer Gefährte aus. Aber er sah keinen einzigen Menschen. Wo, zum Himmel, war er? Nicht in Magdeburg, das war gewiß. Hielt sich Sophia ebenfalls in dieser Wagenstadt auf?
    Hinter einem der Fuhrwerke machte er eine Bewegung aus. Eine Frau, gekleidet in ein weißes, wallendes Hemd, lief auf ein Waldstück in der Nähe zu. War es Sophia? Die Nacht trübte seine Sicht. Ebensogut konnte es auch Thea sein. Sie und Sophia sahen sich so ähnlich, daß er sie aufdiese Entfernung kaum voneinander zu unterscheiden vermochte.
    Er folgte ihr. Zunächst langsam, dann rannte er und hatte sich ihr bald bis auf wenige Schritte genähert.
    »Sophia!« rief Martin. Die Frau blieb beim Klang seiner Stimme zwischen der ersten Baumreihe stehen und wandte sich zu ihm um. Ein leichter Windstoß bauschte das Hemd auf, das sie wie ein Schleier umhüllte. Alle Sorge fiel von Martin ab, als er seine Frau erkannte. Auch Sophias Augen strahlten, als sie ihn ansah.
    »Komm nicht näher«, sagte Sophia, doch gleichzeitig breitete sie die Arme aus. Er wollte auf sie zugehen, doch da löste sich hinter Sophia ein Schatten aus den Baumreihen. Eine kräftige Hand legte sich auf ihren Mund, und Rupert trat hervor.
    Sophia stöhnte unter dem Griff des Einäugigen. Rupert schien es Vergnügen zu bereiten, ihr Schmerzen zuzufügen, denn er preßte sie noch fester an sich.
    Martin machte einen Schritt auf ihn zu. Er wollte Sophia aus seiner Gewalt befreien, doch Rupert lachte nur und richtete mit der anderen Hand eine Pistole auf ihn. Überrascht hielt Martin in seiner Bewegung inne. Ein berstender Knall ertönte, und das Geschoß, das durch seinen Leib fuhr, streckte ihn zu Boden.
    Martin zuckte zusammen und schreckte aus dem Traumgebilde auf. Er bewegte sich und verspürte einen unangenehmen Schmerz an der Seite. Für einen Moment schien es, als wäre es kein Traum gewesen, und Rupert hätte tatsächlich vor wenigen Augenblicken auf ihn geschossen. Doch als er seine Seite betastete, fühlte er einen dicken Verband, unter dem eine Wunde heftige Stiche aussandte.
    Er war also tatsächlich von einem Geschoß getroffen worden. Aber das mußte bereits Tage, wenn nicht Wochen zurückliegen. Und er war davon überzeugt, daß er diesen Traum schon mehrere Male durchlebt hatte. Wieder undwieder war er Sophia gefolgt – durch Wälder, Höhlen oder Ruinen –, um stets aufs neue mit ansehen zu müssen, wie Rupert sie in seine Gewalt brachte und die Pistole auf ihn abfeuerte.
    Sophia – was war mit Sophia geschehen?
    Seine Erinnerung bestand nur aus Fragmenten. Magdeburg. Rupert, der die Waffe auf ihn gerichtet hatte. Der Schmerz, als die Kugel durch seinen Leib gedrungen war.
    Plötzlich stand ihm Sophias Gesicht vor Augen, ihre Augen so leer, die Haut bleich und kalt.
    Martin schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte die schreckliche Erkenntnis von sich abzustreifen, doch es gelang ihm nicht. Sophia war an jenem Tag in ihrem Haus in Magdeburg getötet worden.
    Ein ersticktes Heulen, das mehr wie ein Würgen klang, entrang sich seiner Kehle. Einige Momente gab er sich der Trauer um seine Frau und sein ungeborenes Kind hin, doch dann drängte sich eine wichtige Frage in den Vordergrund.
    Wo war er?
    Er war gestern schon einmal aufgewacht und von diesem Wagen gestiegen, der Teil eines gewaltigen Lagers zu sein schien. Und er hatte Thea an der Seite eines ihm unbekannten Mannes gesehen.
    Warum hielt sich Thea hier auf? Oder entsprang die Erinnerung an sie ebenfalls nur einem weiteren wirren Traumbild?
    Martin

Weitere Kostenlose Bücher