Der Glaspavillon
ich: »Sie glauben also, ich sollte Alan damit konfrontieren?«
Er antwortete nicht, sondern sah mich nur an.
»Oder zur Polizei gehen?«
Noch immer schwieg er. Auf einmal spürte ich, wie eine gewaltige Wut in mir aufstieg. Zorn brauste in meinem Kopf. Mir war plötzlich heiß, trotz der kalten Luft.
»Sie haben ja keine Ahnung«, schrie ich Alex ins Gesicht, »Sie haben ja keine Ahnung, was Sie da von mir verlangen, keine Ahnung! Hier geht es um meine Familie.
Mein ganzes bisheriges Leben. Wenn ich so etwas tue, dann gehöre ich nirgendwo mehr hin, dann bin ich endgültig eine Ausgestoßene.« Tränen brannten auf meinen Wangen. »Ich kann doch nicht einfach zur Polizei gehen und denen von Alan erzählen. Er war wie ein Vater für mich. Ich habe ihn geliebt! «
Schließlich hörte ich auf zu toben. Wir beide schwiegen.
Ein paar Gärten weiter hörte ich das dünne, erstickte Gewimmer eines Babys, das seit einer Ewigkeit schrie und nicht aufhören wollte. Ich kramte meine Zigaretten aus der Tasche, zündete eine an, während ich mein Gesicht vergeblich mit einem durchweichten Taschentuch abzuwischen versuchte.
»Hier.«
Alex gab mir ein neues.
»Tut mir leid. Ich plündere Ihren gesamten Taschentuch-vorrat.«
»Schon in Ordnung. Ich habe einen Taschentuchberg.
Ich bekomme EG-Subventionen dafür.«
Wir gingen zum Haus zurück. An der Tür blieb Alex stehen und legte mir die Hand auf die Schulter.
»Ich verlange von Ihnen nicht, etwas zu tun. Natürlich müssen Sie das ganz allein entscheiden. Ich habe Sie nur gefragt, ob Sie damit leben können.«
Alex kochte noch eine Kanne Kaffee, und ich ging ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen. Ich sah gräßlich aus. Die Wimperntusche floß in kleinen Bächen über mein Gesicht, meine Haare hingen strähnig unter meinem Hut hervor und klebten an den Wangen, meine Augen waren geschwollen, meine Nase war rot von der Kälte. »Reiß dich zusammen«, sagte ich leise zu der Frau im Spiegel und sah zu, wie sich der Mund zu einem freudlosen Lächeln öffnete. »You’ll never get to heaven«, begann ich zu pfeifen, ein Lied, das wir auf Stead immer zusammen gesungen hatten. Aber wenn ich nicht in den Himmel kam, war das auch egal, ich glaubte ohnehin schon lange nicht mehr daran.
Alex hatte eine Dose Kekse auf den Tisch gestellt. Ich nahm einen, tunkte ihn in meinen Kaffee und verzehrte ihn mit Heißhunger. Als ich fertig war, räumte er die Tassen ab und trug sie zur Spüle. Das Gespräch war beendet.
»Danke, Alex«, sagte ich und stieg auf mein Fahrrad.
Als ich Camden Lock erreichte, merkte ich plötzlich, daß ich ihm unbedingt noch etwas sagen mußte, also radelte ich zurück und klopfte an die Tür. Er öffnete fast im gleichen Augenblick und wirkte nicht im geringsten überrascht.
»Ich werde es durchziehen«, sagte ich.
Er rührte sich nicht, musterte mich aber eindringlich.
Dann nickte er.
»So soll es sein«, meinte er.
Das klang beinahe biblisch. Ohne ein weiteres Wort radelte ich davon.
30. KAPITEL
Als das Auto vor dem Haus hupte, war ich bereits seit einer halben Stunde startbereit. Es schneite – wunderschöne große Flocken, die herabsegelten und sich wie Federn auf Bäumen, Häusern und geparkten Autos niederließen. Im Dämmerlicht wirkte London sauber und heiter, und ich saß lange am Fenster, rauchte und dachte nach. Rostige Lieferwagen, Mülleimer, leere Milchfla-schen, alles war rein und weiß. Alle Geräusche sanfter.
Sogar die Fenstergitter am Haus gegenüber glitzerten. Bis heute abend würde sich alles in braunen Matsch verwandelt haben. Heute abend würde Martha bereits neben ihrer einzigen Tochter liegen. Ich war froh, daß sie tot war.
Ich zog den Mantel an, den ich gekauft hatte, bevor ich mich mit Caspar im Highgate Cemetery getroffen und ihn geküßt hatte. Dann setzte ich eine braune Pelzmütze auf, zog mir braune Lederhandschuhe über und ging hinaus zu Claud. Obwohl es für ihn ein beträchtlicher Umweg war, hatte er darauf bestanden, mich abzuholen. Bei diesem Wetter. Er meinte, er wolle sichergehen, daß ich wirklich mitkam.
Anfangs schwiegen wir beide. Ich rauchte und beobachtete, wie London allmählich in ländlichere Gefilde überging. Claud kramte in seinen Kassetten und fuhr dabei mit hundertzehn Stundenkilometern die M l entlang. Die Scheibenwischer schaufelten den Schnee systematisch zu schmalen Schmutzlinien zusammen.
»Na?« sagte ich schließlich.
»Was denn, na?«
»Du weißt schon.«
Claud
Weitere Kostenlose Bücher