Der Glaspavillon
etwas, aber ich verstand ihn nicht. Um mich herum herrschte ein einziges Stimmengewirr, von dem ich nur unzusammenhängende Laute vernahm. Ich beobachtete, wie Münder sich öffneten und schlossen. Leute wischten sich die Augen. Manche lachten. Stopften sich Sandwiches in den Mund. Hoben mit Daumen und Zeigefinger zierliche Teetassen. Körper stießen gegen meinen.
Mir war heiß, meine Beine juckten in der Strumpfhose, meine Handflächen schwitzten, unter meinem linken Auge zuckte unsichtbar ein Muskel. Ich spürte die Vorboten übler Kopfschmerzen. Vor mir stand Theo mit gerunzelter Stirn, Paul hielt mich an der Schulter und flüsterte mir etwas ins Ohr – es ging um Dad und darum, daß wir bald aufbrechen mußten. Der Pfarrer – ein junger Mann mit einem Adamsapfel, der hektisch über seinem Stehkragen auf und ab hüpfte – schüttelte mit verschwitzten Händen andere verschwitzte Hände und faselte irgend etwas davon, daß Martha endlich Frieden gefunden hätte. Luke –
es war tatsächlich Luke – fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei, und jemand reichte mir ein Glas Wasser.
Peggy war ganz in Grau gekommen, Erica in Dunkelblau.
Dad saß auf einem Stuhl bei der Verandatür; gelegentlich beugte sich ein Hut zu ihm herab und hob sich nach einer Weile wieder auf normale Höhe. Dad wirkte alt, elend und traurig.
Ich zog meinen Mantel wieder an, ging hinaus in den Garten und begann ziellos umherzulaufen, wobei ich den Rest aus der Packung rauchte. Erst als ich sah, daß die Gäste in ihre Autos stiegen und wegfuhren, traute ich mich ins Haus zurück.
Wir waren eine seltsame, provisorische Gemeinschaft ohne gemeinsames Ziel. Paul und Erica fuhren bald nach dem Begräbnis zurück nach London. Am nächsten Morgen brachen Jonah und seine Familie auf, und Theo brachte Frances zum Bahnhof. Fred und Lynn, die sehr besorgt wirkte, blieben noch. Und Claud war natürlich auch noch da. Aber was hatten wir eigentlich alle hier zu suchen? Marthas materielle Hinterlassenschaften brauchten nicht geordnet zu werden. Am Morgen des Begräbnisses sahen wir ihre Schubladen und Schränke durch. Jedes Kleidungsstück war gewaschen, zusammengefaltet und ordentlich verstaut. Manches lag in Pappkar-tons, auf denen Martha in ihrer klaren, selbstbewußten Handschrift den Bestimmungsort vermerkt hatte. Ihr Arbeitszimmer schien leer, aber nur, weil es so gut aufgeräumt war. Ich wußte, daß Martha ihr letztes Buch ein paar Monate vor ihrem Tod beendet und ihre letzten Wochen systematisch genutzt hatte. Sie hatte Notizen und eine Menge alten Papierkram weggeworfen. Nachdem wir ein paar Schubladen aufgezogen hatten, war klar, daß jede Akte, jede Heftmaschine und auch sonst alles dort lag, wo es hingehörte. Das war Marthas letzte große Geste. Sie hatte dafür gesorgt, daß wir ihren Geist in keinem Winkel des Hauses unvorbereitet erwischten. Ehe sie gestorben war, hatte sie alles unterschrieben und versiegelt und uns genauso hinterlassen, wie sie es wollte. Diese Erkenntnis war das einzige, was mir an diesem Tag ein Lächeln entlockte.
Die Brüder hatten nichts zu tun. Sie sprachen nicht viel –
Fred war kaum nüchterner als sein Vater –, aber ich glaubte, daß sich keiner von ihnen vorstellen konnte, Alan allein im Haus zurückzulassen. Wie sich herausstellte, sollten sie das auch nie tun.
Das Mittagessen war eine trostlose Angelegenheit. Brot, Käse, Wein und eine seltsam heitere Konversation, in die sich sogar Alan gelegentlich einschaltete. Wir balancierten auf einem schmalen Grat zwischen zwei Leben. Das anerkannte alte, von Martha wohlorganisierte, war noch nicht abgelegt, und davon, wie das neue sein mochte, sprach niemand. Keiner konnte es sich vorstellen.
Glaubten wir etwa, irgendwann könnten wir alle gehen und Alan sich selbst überlassen?
Als wir fertig waren, hinderte Claud seinen Vater mit fast körperlich spürbarer Überredungskunst daran, wieder nach oben in sein Arbeitszimmer zu fliehen.
»Du, ich und Jane machen einen kleinen Spaziergang«, sagte er.
Erschrocken blickte Alan uns an, und ich war kaum weniger überrascht.
»Wir gehen spazieren?« wiederholte ich fragend.
»Ja, es ist wunderbar frisch draußen«, meinte Claud fröhlich.
Ich sah aus dem Fenster und konnte nur dräuende Wolken entdecken.
»Kommt, wir holen unsere Mäntel«, fuhr er fort.
Eifrig half er Alan mit Regenmantel, Hut, Schal und Stiefeln und drückte ihm seinen alten Stock in die Hand.
Wir zogen alte Mäntel an, die noch an der
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