Der Glaspavillon
müssen begreifen, Jane, daß Sie nicht mehr zurück können. Sie werden nie wieder vergessen.«
Ich fröstelte. »Was soll ich machen?«
»Sie geben mir also recht, daß Sie vor Ihrem neuerwor-benen Wissen nicht davonlaufen können?«
»Ja.«
»Glauben Sie, Sie könnten damit leben und nichts unternehmen?«
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Selbstverständlich ist Ihnen klar, daß Sie, sollten Sie sich entschließen, einfach mit dieser schrecklichen Erinnerung weiterzuleben, dennoch Macht ausüben und eine Entscheidung fällen.«
»Ja, das weiß ich.«
»Wer ist wichtig für Sie?«
Diese Frage verblüffte mich. »Wie bitte?«
»Ich fragte, wer ist wichtig für Sie?«
»Robert und Jerome.« Ihre Namen kamen blitzschnell aus meinem Mund, und plötzlich wurde mir klar, daß sie die ganze Zeit ganz nah an der Oberfläche meines Bewußtseins gewesen waren – sie und auch der Horror, den sie nun meinetwegen würden durchmachen müssen.
Ich hatte sie nur mit Mühe verdrängt. »Dad. Kim. Und Hana.«
»Wer noch?«
»Na ja, Claud. Trotz allem.«
»Wer noch?«
»Danach kommen noch eine Menge Leute, aber die sind mir nicht ganz so wichtig.«
»Alan?«
»Nein, er natürlich nicht«, antwortete ich fast gequält.
Ich konnte die Erwähnung dieses Namens kaum ertragen.
»Sonst niemand Besonderes?«
»Eigentlich nicht.«
»Wirklich niemand?«
»Alex, was soll denn das?«
»Was ist mit Ihnen?«
»Mit mir?« Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.
»Sind Sie sich selbst nicht wichtig, Jane?«
»Ja, stimmt, ich weiß, was Sie meinen, aber …«
»Finden Sie nicht, Jane, daß Sie es sich selbst schuldig sind, ganz offen zu Ihrer Erkenntnis zu stehen? Sie denken an Ihre Söhne, Ihren Vater, Ihren Ex-Ehemann. Sie sind so mit der Welt um Sie herum beschäftigt, daß Sie das Wichtigste einfach vergessen haben.«
»Aber ich muß doch an die anderen denken. Ich bin dabei, ihre Welt zu zerstören.«
Alex beugte sich noch weiter vor und musterte mich durchdringend.
»Ich hatte schon des öfteren mit ähnlichen Fällen zu tun«, sagte er. »Alle diese Frauen mußten tapfer und entschlossen sein. Sie mußten nicht nur mit ihrem eigenen Schmerz fertig werden, sondern auch damit, daß ihnen weder die Menschen ihrer Umgebung noch die staatlichen Behörden glauben wollten. Sie schulden es sich nicht nur selbst, die Sache durchzuziehen, Jane, Sie schulden es all diesen Frauen, die wissen, wie weh es tut, die Erinnerung zu verdrängen, und all denen, die den Mut gefunden haben, offen darüber zu sprechen. Weinen Sie doch nicht.«
Jetzt war seine Stimme wieder ganz sanft; er reichte mir noch ein Taschentuch, und ich putzte mir geräuschvoll die Nase.
»Sie haben nicht zufällig eine Zigarette für mich?«
Er lächelte.
»Wir könnten in den Garten gehen.«
Draußen war es feucht und kalt. Schlammpfützen hatten sich auf dem kümmerlichen Rasen gebildet, Schneeglöckchen welkten in den Blumentöpfen neben der Tür. Ich steckte eine Zigarette zwischen die Lippen und riß ein Streichholz an; es flammte auf und ging sofort wieder aus.
Ich versuchte es noch einmal, indem ich meine Hand schützend vor die Flamme hielt. Diesmal klappte es, und ich sog dankbar den Rauch ein.
»Diese anderen Frauen«, sagte ich schließlich. »Was haben die getan?«
»Die meisten haben sich daran erinnert, daß sie mißbraucht worden waren«, antwortete Alex. »Sie waren nicht Zeugin von Greueltaten, die anderen zugefügt wurden. Allmählich erkennt auch die Wissenschaft, daß das Bewußtsein fähig ist, zu seinem eigenen Schutz eine Amnesie herbeizuführen. Aber die verdrängten Erinnerungen gehen nicht verloren. Sie sind wie Unter-Verzeichnisse in einer geschützten Computerdatei, die mit dem richtigen Paßwort wieder aufgerufen werden können.
Mit manchen Therapieformen kann man diese Informationen zurückholen.«
»Ja, aber was haben diese Frauen getan, als sie sich wieder erinnerten?«
»Manche haben gar nichts getan – abgesehen davon, daß sie natürlich jeden Kontakt zu ihren Peinigern abbrachen.«
»Und die anderen?«
»Sie sind mit ihren Wunden an die Öffentlichkeit getreten. Sie boten denen, die sie mißbraucht haben, die Stirn, manche gingen auch zur Polizei. Sie wollten sich nicht länger nur als Opfer fühlen.«
Ich steckte mir noch eine Zigarette an und wanderte langsam zum Ende des Gartens. Alex machte nicht den Versuch, mir zu folgen, er beobachtete nur, wie ich hin und her marschierte. Schließlich sagte
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